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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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die wundersamen Halluzinationen und körperlichen Traumata ihr von Mariah beigebracht wurden. Fletcher hat geschwiegen, weil er seinen Knüller nicht preisgeben wollte; Mariah schweigt, weil sie ihre Glaubwürdigkeit nicht vollends zunichte machen will. Und doch kann er nicht viel mehr tun als sie zu beschuldigen, im Zeugenstand die Unwahrheit zu sagen.
    Er nimmt sich einen Moment Zeit, um sich zu sammeln. »Sie lieben Ihre Tochter, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Sie würden alles für sie tun?«
    »Ja.«
    »Würden Sie Ihr Leben für sie geben?«
    Er kann sehen, dass sie sich Faith halbtot in ihrem Krankenhausbett vorstellt. »Ja, das würde ich.«
    »Würden Sie auf das Sorgerecht für sie verzichten?«
    Mariah zögert. »Ich verstehe nicht.«
    »Was ich meine, Mrs. White, ist: Wenn Experten Ihnen beweisen würden, dass Colin der bessere Erziehungsberechtigte für Faith wäre, würden Sie sie dann gehen lassen?«
    Mariah sieht stirnrunzelnd zu Colin hinüber. Dann richtet sie den Blick wieder auf den Anwalt. »Ja.«
    »Keine weiteren Fragen.«
     
    Wütend fordert Joan eine weitere Vernehmung der Zeugin. »Mariah«, sagt sie, »zuerst möchte ich noch einmal auf das Videoband zu sprechen kommen. Können Sie uns sagen, was Ihren Wutausbruch provoziert hat?«
    »Ian Fletcher hatte geschworen, dass er Faith nicht filmen würde. Nur darum hatte ich ihm erlaubt, das Belastungs-EKG meiner Mutter zu filmen. Als ich dann nur eine Minute unachtsam war, wies er seinen Kameramann an, zu Faith hinüberzuschwenken, und da habe ich mich zwischen sie und die Linse gestellt.«
    »Was ist Ihnen in diesem Moment durch den Sinn gegangen?«
    »Dass er Faith auf keinen Fall filmen durfte. Das Letzte, was ich wollte, war noch größeres Medieninteresse an ihr. Sie ist nur ein kleines Mädchen; sie sollte ein Leben führen können, das ihrem Alter entspricht.«
    »Würden Sie sagen, dass Sie in diesem Moment emotional instabil waren?«
    »Nein. Ich war so normal wie jeder andere. Ich wollte nur Faith beschützen.«
    »Danke«, sagt Joan. »Und jetzt möchte ich, dass Sie noch einmal über Mr. Metz’ letzte Frage nachdenken. Wenn es nach ihm ginge, würde Faith in eine fremde Umgebung verpflanzt. Sie würde unter einem Dach leben mit der Frau, die sie in einer kompromittierenden Situation mit ihrem Vater gesehen hat. Sie bekommt ein neues Geschwisterchen. Das neue Zuhause ist ihr fremd. Ganz zu schweigen davon, dass ihre Anhänger ihr vermutlich nachfolgen und ihr neues Zuhause belagern werden. Klingt das für Sie nach einer realistischen Beschreibung der Situation?«
    »Ja.«
    »Gut. Und hat Colin Sie im Laufe dieses Verfahrens davon überzeugen können, dass er geeigneter wäre als sie, sich um Faith zu kümmern?«
    »Nein«, antwortet Mariah verwirrt.
    »Hat Dr. Orlitz, der vom Staat bestellte Psychiater, Sie davon überzeugt, dass Faith bei Colin besser aufgehoben wäre?«
    »Nein«, sagt sie noch einmal, diesmal mit festerer Stimme.
    »Hat Dr. DeSantis, die von der Anklage als Gutachterin bestellte Psychiaterin, Sie davon überzeugen können, dass Faith bei ihrem Vater besser aufgehoben wäre?«
    »Nein.«
    »Allen McManus?«
    »Nein.«
    »Mr. Fletcher?«
    »Nein.«
    »Und Dr. Birch? Hat er Sie davon überzeugen können, dass Colin besser als Sie in der Lage wäre, sich um Faith zu kümmern?«
    Mariah lächelt und zieht das Mikrophon ein wenig näher heran. Mit fester Stimme sagt sie: »Nein, das hat er nicht.«
     
    Nachdem die Verteidigung mit Mariah ihren letzten Zeugen aufgerufen hat, beruft der Richter eine Pause ein. Ich gehe in das kleine Besprechungszimmer, in das Joan und ich uns bereits wiederholt während der Verhandlungspausen zurückgezogen haben, und nach einigen Minuten geht die Tür auf, und Ian kommt herein. »Joan sagte, dass ich dich hier finde«, sagt er.
    »Ich habe sie darum gebeten.«
    Er weiß offensichtlich nicht, wie er sich verhalten soll. »Danke, dass du Dr. Fitzgerald gefunden und hergeholt hast.«
    Ian zuckt die Achseln. »Das war ich dir schuldig.«
    »Du warst mir überhaupt nichts schuldig.«
    Ich stehe auf und gehe zu ihm. Er hat die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, als hätte er Angst davor, mich anzufassen. »Vielleicht sollte ich dir ebenfalls danken«, murmelt er. »Für das, was du nicht gesagt hast.«
    Ich schüttle den Kopf. Manchmal gibt es keine Worte. Die Stille zwischen uns ist weit wie der Ozean, aber es gelingt mir, darüber hinwegzureichen und die Arme um ihn zu legen.
    Ich
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