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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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Mariah White fähig wäre, ihrer Tochter willentlich oder unwillentlich etwas anzutun.«
    Ein Raunen geht durch die Zuschauerreihen, und der Richter räuspert sich. »Und jetzt zur ersten Frage. Alle - einschließlich meiner selbst - haben sich zu Anfang dieser Verhandlung gefragt, ob dieses Kind tatsächlich eine Art Wunderheilerin ist. Aber es ist nicht Aufgabe des Gerichts, zu entscheiden, ob Faith’ Visionen und Wunden göttlichen Ursprungs sind. Wir sollten nicht danach fragen, ob sie Jüdin, Christin oder Muslime ist, ob der Messias oder der Antichrist. Wir sollten nicht fragen, ob Gott einem siebenjährigen Mädchen etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Dieses Gericht muss sich folgende Frage stellen und beantworten: Wer hat zugehört, als dieses siebenjährige Mädchen etwas Wichtiges zu sagen hatte?«
    Richter Rothbottam schlägt den Aktendeckel vor ihm zu. »Aufgrund der Zeugenaussagen, die ich hier gehört habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Mariah Whites Ohren weit geöffnet sind.«
     
    KAPITEL 18
     
    Denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein.
    Matthäus 6, 21
     
    6. Dezember 1999, früher Abend
     
    WER BIN ICH denn«, sagt Ian, »Ihnen zu sagen, was Sie denken sollen oder nicht?« Seine Stimme ist bis unter das Gebälk der Stadthalle zu hören und lässt das Vogelnest unter dem Dach erzittern, das dort oben ist, so lange man denken kann. Vor dem improvisierten Podium filmen zwei Kameraleute das Geschehen. Eine Reihe Scheinwerfer und Reflektoren säumen die Bühne, dort, wo im November immer die Wahlurnen aufgestellt werden. Und davor drängen sich die Vertreter von über zweihundert Sendern und Zeitungen.
    Der große Saal der Stadthalle ist der einzige Raum in ganz New Canaan, der groß genug ist für Ians öffentliche Pressekonferenz. Sie wurde mit zwei Stunden Vorlauf in der Eingangshalle des Gerichts angekündigt, und alle sind gekommen. Die Medien wollen hören, was Ian Fletcher zu sagen hat, jetzt, da Mariah White das Sorgerecht für ihre Tochter behält.
     
    Ian lächelt. »Warum sind Sie alle eigentlich gekommen? Was spielt es für eine Rolle, was ich zu sagen habe?«
    Ein Reporter aus einer der hinteren Reihen ruft: »Weil es kostenlosen Kaffee gibt?«
    Gelächter brandet auf, und Ian stimmt ein. »Vielleicht.« Er lässt den Blick über die Menge schweifen. »Ich habe mir in den letzten Jahren einen Namen damit gemacht, dass ich Gott und jene, die an ihn glauben, verdammt habe. Damit, dass ich versucht habe, Anhänger zu gewinnen. Ich weiß, dass Sie alle hören wollen, was ich über Faith White zu sagen habe, aber Sie werden enttäuscht sein. Ich habe im Zeugenstand die Wahrheit gesagt: In Kansas City ist nichts passiert. Ich werde nicht darüber urteilen, ob dieses kleine Mädchen einen Draht zu Gott hat. Ich werde mich damit begnügen, zu sagen, dass es weder mich noch Sie etwas angeht.«
    Er wippt auf den Zehenspitzen. »Ein ziemlicher Hammer, was? Nachdem ich ein wahres Imperium auf dem Atheismus aufgebaut habe, erkläre ich jetzt, dass religiöse Überzeugungen Privatsache sind? Ich kann es sehen, Sie schütteln die Köpfe und meinen, dass Reporter sich verdammt noch mal in alles einmischen dürfen — aber das ist falsch. Es besteht ein Unterschied zwischen Fakt und Meinung, und das weiß jeder von Ihnen. Und in der Religion, auch wenn dieses Thema besonders provokant sein mag, geht es nicht nur darum, woran die Menschen glauben, sondern auch schlicht darum, dass sie überhaupt glauben. Ganz so wie es mein gutes Recht ist, hier rauszuspazieren und zu verkünden, Gott sei eine Farce, hat Faith White das Recht, von ihrem Schlafzimmerfenster aus zu verkünden, dass Gott lebt und es ihm gut geht. Meine Meinung steht gegen ihre. Aber nirgends in diesem Durcheinander gibt es reine, unumstößliche Fakten.
    Wer hat also Recht? Die Antwort lautet: Ich weiß es nicht. Und es sollte mir auch egal sein. Meine Mama hat immer gesagt, man kann keinen Einfluss darauf nehmen, wie jemand von Gott oder Politik denkt, auch wenn ich es auf beiden Ebenen versucht habe. Aber wissen Sie, vielleicht lebe ich irgendwann Tür an Tür mit dem Papst. Oder in derselben Straße wie Faith. Oder in dem Hotelzimmer neben jenem des Dalai Lamas. Und von Tür zu Tür zu laufen, um zu versuchen, sie davon zu überzeugen, dass ich Recht habe, wäre reine Zeitverschwendung. Nein, halt: Es ist reine Zeitverschwendung gewesen. Wir müssen die Uberzeugungen unserer Mitmenschen nicht akzeptieren … aber wir
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