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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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Rothbottam seufzt. »Aber Sie sind nicht derjenige, den ich mir anhören möchte. Ich habe Sie, Ms. Standish und Ms. van der Hoven angehört, und ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich brauche jetzt eine kleine Mittagspause - und die würde ich gern in Gesellschaft von Faith verbringen.«
    Mariah wendet sich ihrer Tochter zu. Faith’ Augen sind geweitet, und sie schaut verwirrt.
    »Was meinst du dazu?«, fragt Richter Rothbottam. Er kommt hinter seinem Tisch hervor und geht auf den Zuschauerraum zu. »Möchtest du mit mir zusammen Mittag essen, Faith?«
    Faith blickt zu ihrer Mutter hinüber, die kaum merklich nickt. Der Richter hält ihr die Hand hin. Faith ergreift sie und verlässt an seiner Seite den Saal.
     
    Sein Stuhl gefällt ihr. Er dreht sich, und das noch schneller als der im Büro ihres Vaters. Und ihr gefällt die Musik, die er spielt. Faith blickt auf die CD-Sammlung auf einem Regal. »Haben Sie auch etwas von Disney?«
    Richter Rothbottam wählt eine CD aus, legt sie auf, und die Klänge der Broadway-Aufnahme von Der König der Löwen erfüllt den Raum. Als er seine Robe ablegt, schnappt Faith nach Luft.
    »Was ist denn?«, fragt der Richter.
    Sie senkt den Blick und fühlt ein Brennen in den Wangen, wie wenn sie dabei erwischt wird, wie sie vor dem Abendessen Schokoladenkekse stibitzt. »Ich wusste nicht, dass Sie drunter etwas anhaben.«
    Der Richter lacht. »Das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, war es noch so.« Er nimmt ihr gegenüber Platz. »Es freut mich, dass es dir wieder besser geht.«
    Sie nickt über das Truthahnsandwich hinweg, das er auf dem massiven Schreibtisch vor sie gelegt hat. »Ich auch.«
    Er rückt seinen Stuhl näher an den Schreibtisch heran. »Faith, bei wem möchtest du wohnen?«
    »Am liebsten mit beiden zusammen«, sagt sie. »Aber das geht nicht, oder?«
    »Nein.« Richter Rothbottam mustert sie aufmerksam. »Spricht Gott mit dir, Faith?«
    »Hm-hm.«
    »Weißt du, dass sich deswegen viele Leute für dich interessieren?«
    »Ja.«
    Der Richter zögert. »Woher soll ich wissen, ob du die Wahrheit sagst?«
    Faith hebt ihm das Gesicht entgegen. »Wenn Sie im Gericht sind, wie wissen Sie da, ob jemand die Wahrheit sagt?«
    »Die Menschen schwören, die Wahrheit zu sagen. Auf eine Bibel.«
    »Wenn ich nicht die Wahrheit sage … würden Sie dann nicht auf irgendein beliebiges Buch schwören?«
    Er grinst. So viel dazu, dass Gott in einem Gerichtssaal nichts zu suchen hat; er ist schon da.
    Aber den Medien zufolge ist Faith’ Gott eine Sie. »Die Menschen stellen sich Gott seit vielen, vielen Jahren als einen Mann vor«, sagt er.
    »Meine Lehrerin in der ersten Klasse hat gesagt, dass die Menschen früher viel Falsches geglaubt haben, weil sie es nicht besser wussten. Beispielsweise, dass man nicht baden sollte, weil man davon krank würde. Dann hat jemand Krankheitserreger unter dem Mikroskop gesehen und angefangen, anders zu denken. Man kann ganz fest an etwas glauben«, sagt sie, »und es ist trotzdem falsch.«
    Rothbottam starrt Faith verdattert an und fragt sich, ob dieses kleine Mädchen nicht tatsächlich eine Prophetin ist.
    Richter Rothbottam lässt seine Lesebrille auf der Nase tiefer rutschen und blickt nacheinander auf den Kläger, die Beklagte und den vollgepackten Zuschauerraum. »Vor ein paar Tagen habe ich Ihnen erklärt, dass es bei einem Prozess nur einen einzigen Gott gäbe, und zwar den Richter. Eine sehr kluge junge Dame hat mich daran erinnert, dass das nicht unbedingt der Fall sein muss.« Er hält die Bibel hoch. »Wie Mr. Fletcher bei seinem Schwur so eloquent festgestellt hat, stützen wir uns bei Gericht auf Konventionen, ungeachtet der religiösen Einstellung desjenigen, der auf die Bibel schwört.
    Ich bin nicht hier, um mit Ihnen religiöse Fragen zu erörtern, sondern um über Faith White zu sprechen. Beide Themen sind miteinander verknüpft und müssen doch gesondert betrachtet werden. So wie ich das sehe, wurden hier zwei Hauptfragen erhoben: Spricht Gott mit Faith White? Und fügt Mariah White ihrer Tochter irgendein Leid zu?«
    Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und faltet die Hände über den Bauch. »Ich werde mit der zweiten Frage anfangen. Ich kann die Sorge ihres Vaters verstehen. Ich würde mir auch Sorgen machen. Ich habe von Mr. Metz und seinen Experten ebenso erstaunliche Dinge gehört wie von Ms. Standish und ihren Fachleuten, ja sogar von der mit diesem Fall betrauten Prozesspflegerin. Ich kann nicht glauben, dass
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