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Die wunderbare Welt der Rosie Duncan

Die wunderbare Welt der Rosie Duncan

Titel: Die wunderbare Welt der Rosie Duncan
Autoren: Dickinson Miranda
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    Diese Stadt war nicht von Beginn an die meine – geboren wurde ich über dreitausend Meilen entfernt in einem verschlafenen Städtchen im Herzen Englands. Aber seit meinem allerersten Tag in New York hatte ich das Gefühl, als würden mich alle Straßen, Plätze und baumbestandenen Avenues mit offenen Armen willkommen heißen. Ich weiß nicht, ob eine Stadt eine Herzensentscheidung treffen kann, aber wenn ja, so hat New York sich von ganzem Herzen für mich entschieden. Und obwohl ich in dieser Stadt einige der schwersten und schmerzlichsten Tage meines Lebens verbracht habe, hat sie doch jeden Schicksalsschlag auffangen können – so wie eine gute Freundin, die immer für einen da ist und einem bei einer Tasse Tee versichert, man solle nur Geduld haben, weil am Ende doch alles gut werde. Und auf einmal ist man ganz sicher, dass es genau so sein wird. Irgendwann.
    Meine Freundin Celia sagt immer, ich sei eine »absolut unverbesserliche, und selbst angesichts einer erschütternden Beweislage bewundernswerte Optimistin«. Wer jetzt meint, das klinge nach reißerischer Schlagzeile, hat gar nicht so Unrecht: Celia schreibt eine Kolumne für die New York Times und hat im Gegensatz zu mir schon immer in dieser
Stadt gelebt. Sie war eine der ersten Freundinnen, die ich in New York gefunden habe, und passt seitdem auf mich auf wie eine leicht neurotische große Schwester. Gegen diese Beschreibung hätte sie bestimmt nichts einzuwenden – wenn ich mich recht entsinne, ist sie sogar von ihr.
    Celia wohnt im ersten Stock eines ziemlich noblen Brownstones auf der Upper West Side, gleich um die Ecke vom Riverside Drive. Jeden Samstag treffen wir uns bei ihr, um zu frühstücken und über Gott und die Welt zu reden. Von ihrem Wohnzimmer aus hat man einen sehr privilegierten Panoramablick über die West 91st Street.
    »Wenn man nur lange genug in New York herumsitzt, hat man irgendwann die ganze Welt vorbeilaufen sehen«, hatte Mr Kowalski immer gern lakonisch bemerkt. Mr Kowalski war der Vorbesitzer meines Blumenladens. Vor fünf Jahren hatte er sich zur Ruhe gesetzt und war mit seiner Tochter Lenka in sein geliebtes Warschau zurückgekehrt – wo er dann leider ziemlich bald und ganz plötzlich gestorben war. Celia und Mr Kowalski waren die ersten wahren Freunde, die ich in meiner Wahlheimat gefunden hatte.
    »Rosie, du hast ja überhaupt keine Ahnung, wie glücklich du dich schätzen kannst, dass ihr in England so viel Geschichte habt«, verkündete Celia an einem dieser Samstage, als sie mit Kaffee und warmen Muffins aus der Küche kam. Wie meist hatte unsere Unterhaltung irgendwo in der Mitte eines Themas begonnen und spann sich von da so selbstverständlich weiter, als hätten wir am Anfang angefangen. Ich musste grinsen, als sie sich neben mich auf den Stuhl plumpsen ließ.
    »Ach ja, Geschichte …«, erwiderte ich weise.
    »Aber ihr Engländer wisst überhaupt nicht zu schätzen, welches Privileg es ist, so viel Geschichte zu haben, mit richtigen Königen und Königinnen – und das seit Jahrhunderten
! Kann ich von mir vielleicht behaupten, dass meine Vorfahren schon im zehnten Jahrhundert durch New York spaziert wären? Nein! Meine Familie ist ja nicht mal richtig amerikanisch. Ich meine, was weiß ich, wo meine Vorfahren herkamen? Wahrscheinlich bin ich zu vier Sechzehnteln aus der Ukraine mit ein paar Einsprengseln Äußere Mongolei.«
    Gerade als ich sie darüber aufklären wollte, dass es eigentlich auch in England keine richtigen Engländer gab, und meine Vorfahren ursprünglich aus Mähren (oder war es Böhmen?) kamen, merkte ich, dass Celia die Sache sehr ernst und persönlich nahm. Also hielt ich den Mund und goss uns Kaffee ein.
    »Was ist das eigentliche Problem?«, fragte ich.
    Celias besorgte Miene entspannte sich ein wenig, und sie nahm sich einen Muffin.
    »Meine Kolumne für nächste Woche. Zuerst wollte ich darüber schreiben, welche Rolle Geschichte für die persönliche Identität spielt. Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich darüber schreiben. Die meisten von uns kennen unsere eigene Geschichte doch gar nicht – abgesehen von dem, was wir als ›unsere‹ Geschichte in der Schule lernen. Wir sind ein Schmelztiegel von Einwanderern und Idealisten, Verbannten und Flüchtlingen, die alle einer verdammten Utopie hinterherjagen, die überhaupt nicht existiert. Wir wollen zu irgendetwas dazugehören und haben doch keine Ahnung, was es ist.«
    Mir kam eine leise Ahnung, dass ich
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