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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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den briefmarkengroßen Fenstern entlang und schließe auch sie. Ich klappe die Fensterläden zu und sichere sie mit den winzigen Riegeln. Ich schiebe die Begonien unter die schützende kleine Schaukel auf der Veranda. Ich verrammle das Haus, als müsse es einem orkanartigen Sturm standhalten.
     
    Colin ruft an, vier Tage nachdem er gegangen ist. »So sollte es nicht sein.«
    Vermutlich meint er damit, dass er nicht damit gerechnet hat, dass Faith und ich in sein Schäferstündchen hineinplatzen würden. Wahrscheinlich haben wir ihn zum Handeln gezwungen. Aber selbstverständlich sage ich nichts von alledem.
    »Es wird nicht funktionieren mit uns beiden, Mariah. Das weißt du.«
    Ich lege auf, während er noch spricht, und ziehe mir die Bettdecke über den Kopf.
     
    Fünf Tage, nachdem Colin uns verlassen hat, spricht Faith immer noch kein Wort. Sie schleicht durch das Haus, lautlos wie eine Katze, spielt mit ihren Spielsachen oder schaut sich Videos an und beobachtet mich dabei argwöhnisch.
    Meine Mutter schafft es, trotz anhaltenden Schweigens zu erahnen, dass Faith Haferflocken zum Frühstück möchte, nicht an ihr Playmobil-Dorf auf dem obersten Regalboden herankommt oder vor dem Schlafengehen noch einen Schluck Wasser braucht. Ich frage mich, ob sie sich vielleicht über eine Geheimsprache miteinander verständigen. Ich verstehe sie nicht; sie verweigert jede Kommunikation, und alles in allem erinnert mich das an Colin.
    »Du musst etwas tun«, sagt meine Mutter immer wieder. »Sie ist deine Tochter.«
    Biologisch, ja. Aber Faith und ich haben wenig gemeinsam. Tatsächlich scheint es, als hätte sie eine Generation übersprungen und stamme direkt von ihrer Großmutter ab, so nah wie die beiden sich stehen. Sie sind beide gleich launig und so unverwüstlich wie Gummi, von dem alles abprallt. Umso ungewöhnlicher ist es dann auch, sie herumlaufen zu sehen wie ein Schatten ihrer selbst. »Was soll ich denn machen?«
    Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Spiel ein Spiel mit ihr. Geh mit ihr spazieren. Oder du könntest ihr zumindest sagen, dass du sie liebst.«
    Ich wende mich meiner Mutter zu; ich wünschte, es wäre so einfach. Ich liebe Faith seit ihrer Geburt, aber nicht so, wie man annehmen würde. Ich war so erleichtert, als sie da war. Nachdem ich mir erst gewünscht hatte, sie zu verlieren, und anschließend monatelang Antidepressiva geschluckt hatte, war ich sicher gewesen, sie würde mit drei Augen oder einer Hasenscharte geboren. Aber auf die leichte, komplikationsfreie Geburt folgte die Erkenntnis, dass ich jetzt ein Baby hatte, das ich nicht glücklich machen konnte, so als würde die Verbindung zwischen uns unterbrochen, noch bevor sie entstehen konnte, zur Strafe dafür, dass ich das Schlimmste von ihr angenommen hatte. Faith litt häufig unter Koliken; sie hielt mich die ganze Nacht wach und trank so gierig, dass ich bei dem Anblick jedes Mal Bauchkrämpfe bekam. Schlaflos und nervös legte ich sie manchmal auf mein Bett, starrte in ihr altkluges rundes Gesichtchen und dachte: Was um alles in der Welt soll ich nur mit dir machen?
    Ich hatte gedacht, mütterliche Fähigkeiten würden sich ganz von selbst einstellen, so wie die Milch einschoss, wenn es soweit war — ein wenig schmerzhaft, ein bisschen verunsichernd, aber eben ein Teil von mir, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich wartete geduldig. Was machte es schon, dass ich nicht wusste, wie ich bei meiner kleinen Tochter Fieber messen sollte? Was machte es schon, dass ich Probleme mit dem Wickeln hatte? Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde ich aufwachen und wissen, was zu tun war.
    Irgendwann nach Faith’ drittem Geburtstag gab ich die Hoffnung auf. Aus einem unerfindlichen Grund wird die Mutterrolle mir immer schwerfallen. Ich sehe, wie mehrfache Mütter ihre Kinder mühelos in ihren Sitzen festschnallen, während ich Faith’ Gurt dreimal überprüfen muss, um ganz sicher zu gehen, dass er auch wirklich eingerastet ist. Ich höre zu, wenn Mütter sich hinabbeugen und zu ihren Kindern sprechen, und versuche mir einzuprägen, was sie sagen.
    Allein bei dem Gedanken, Faith’ sturem Schweigen auf den Grund zu gehen, dreht sich mir der Magen um. Was, wenn ich versage? Was bin ich dann für eine Mutter? »Ich bin noch nicht soweit«, rede ich mich raus.
    »Um Himmels willen, Mariah, reiß dich zusammen. Zieh dich an, bürste dir das Haar und benimm dich wie eine ganz normale Frau, und ehe du dich versiehst, wirst du wieder du selbst
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