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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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Colin mich verlassen hat. Etwas an dieser Klageschrift erscheint mir unwirklich, wie ein Witz, bei dem mir die Pointe entgangen ist. Etwas, worüber Colin und ich in ein paar Monaten lachen werden, wenn das Licht aus ist und wir einander in den Armen liegen.
    Joan Standish erklärt mir, was die Klageschrift bedeutet. Sie fragt mich, ob ich einen Therapeuten sprechen oder mit einer Selbsthilfegruppe Kontakt aufnehmen möchte. Sie möchte wissen, was passiert ist. Sie spricht von Scheidungsurteilen, Unterhalt und Sorgerecht, während der ganze Raum sich um mich dreht. Es kommt mir unwirklich vor, dass die Planung einer Hochzeit ein ganzes Jahr in Anspruch nehmen kann und eine Scheidung in sechs Wochen vorüber ist - als wären in der Zwischenzeit die Gefühle so stark geschrumpft, dass man sie mit einem einzigen zornigen Atemstoß fortblasen kann.
    »Glauben Sie, dass Colin das Sorgerecht für Ihre gemeinsame Tochter beantragen wird?«
    Ich starre die Anwältin an. »Ich weiß es nicht.« Ich kann mir nicht vorstellen, dass Colin ohne Faith leben soll. Andererseits kann ich mir mein eigenes Leben ohne Colin ebenso wenig vorstellen.
    Joan Standish kneift die Augen zusammen und setzt sich mir gegenüber auf ihren Schreibtisch. »Wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten, Mrs. White«, beginnt sie. »Sie machen auf mich den Eindruck, als würde das alles Sie gar nicht betreffen. Das ist eine sehr verbreitete Reaktion, wissen Sie, zu verdrängen, was rechtlich in die Wege geleitet wurde, und sich von der ganzen Sache überrollen zu lassen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Ihr Ehemann wirklich und wahrhaftig die juristische Maschinerie in Gang gesetzt hat mit dem Ziel, Ihre Ehe zu beenden.«
    Ich öffne den Mund und schließe ihn gleich wieder.
    »Was?«, fragt sie. »Wenn ich Sie vertreten soll, müssen Sie sich mir anvertrauen.«
    Ich blicke auf meinen Schoß. »Es ist nur … also … Wir haben das so ähnlich schon einmal durchgemacht. Was wird aus … alledem … wenn er beschließt, doch zurückzukommen?«
    Die Anwältin beugt sich vor und stützt dabei die Ellbogen auf die Knie. »Mrs. White, sehen Sie wirklich keinen Unterschied zwischen damals und heute? Hat er sie das letzte Mal verletzt?« Ich nicke. »Hat er versprochen, sich zu ändern? Ist er zu ihnen zurückgekommen?« Sie lächelt sanft. »Hat er beim letzten Mal die Scheidung eingereicht?«
    »Nein«, entgegne ich leise.
    »Der Unterschied zwischen damals und heute«, fährt Joan Standish fort, »ist der, dass er Ihnen diesmal einen Gefallen getan hat.«
     
    Unsere Plätze im Zirkus befinden sich ganz vorn in der ersten Reihe. »Ma«, frage ich, »wie bist du an diese Karten so weit vorn gekommen?«
    Meine Mutter zuckt die Achseln. »Ich habe mit dem Zir kusdirektor geschlafen«, raunt sie mir zu und lacht dann über ihren eigenen Witz. Ihre Überraschung vom gestrigen Tag war eine Fahrt zur Kartenvorverkaufsstelle in Concord, um für uns alle Karten für den in Boston gastierenden Ringling Brothers Circus zu besorgen. Sie meinte, Faith brauche etwas, das sie wieder zum Reden animiert. Und als sie von der Klageschrift erfuhr, meinte sie, ich solle die Fahrt nach Boston als Feier betrachten.
    Meine Mutter winkt einen Mann mit einem Bauchladen herbei und kauft für Faith eine Eiswaffel. Die Clowns gehen durch die Sitzreihen. Ich erkenne einige von ihnen wieder - kann es sein, dass es nach all den Jahren noch dieselben sind? Einer mit einem weißen Hütchen und einem blauen Lächeln lehnt sich vor uns über die Absperrung. Er zeigt erst auf seine gepunkteten Hosenträger und dann auf Faith’ ebenfalls gepunktete Bluse und klatscht in die Hände. Als Faith verlegen errötet, formt er stumm das Wort »Hallo«. Faith’ Augen weiten sich, und sie antwortet ihm ebenso lautlos.
    Der Clown greift in seine Gesäßtasche und holt einen Fettstift hervor. Er legt Faith eine Hand unter das Kinn und malt ihr mit der anderen ein breites, strahlendes Lächeln über die Lippen. Anschließend malt er Noten auf ihren Hals und zwinkert ihr zu.
    Er hopst von der Absperrung weg, um sich einem anderen Kind zuzuwenden, dreht sich aber im letzten Moment noch einmal um. So schnell, dass ich ihm nicht ausweichen kann, greift er nach meinem Gesicht. Seine Hand fühlt sich kühl an auf meiner Wange, als er eine Träne unter mein linkes Auge malt, dunkelblau und prallgefüllt mit Trauer.
     
    Obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, wollte ich als Kind zum Zirkus.
    Meine Eltern
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