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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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sein.« Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Colin hat dir zehn Jahre lang eingeredet, du seist eine Mimose, und du warst dumm genug, ihm zu glauben. Was versteht er schon von Nervenzusammenbrüchen?«
    Sie stellt eine Tasse Kaffee vor mich hin; ich weiß, dass sie es als Triumph ansieht, dass ich am Esstisch sitze, anstatt mich weiter im Bett zu verkriechen. Als ich eingewiesen wurde, lebte sie in Scottsdale, Arizona, wo sie sich nach dem Tod meines Vaters niedergelassen hatte. Nach meinem Selbstmordversuch kam sie her, und als sie sicher war, dass die Gefahr vorüber war, flog sie wieder heim. Natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass Colin mich einweisen lassen würde. Als sie davon erfuhr, verkaufte sie ihre Eigentumswohnung, kehrte hierher zurück und setzte vier Monate lang alle Hebel in Bewegung, um zu erreichen, dass ich auf eigenen Wunsch hin entlassen werden durfte. Sie hat es immer für einen Fehler gehalten, dass Colin mich nach Greenhaven gebracht hat, und sie hat ihm das nie verziehen. Was mich betrifft, weiß ich nicht so recht. Manchmal denke ich wie meine Mutter, dass er nicht darüber hätte entscheiden dürfen, wie ich mich fühlte, ganz gleich, wie sehr ich mich damals abkapselte. Dann wieder muss ich daran denken, dass Greenhaven der einzige Ort war, an dem ich mich wirklich wohl fühlte, weil dort niemand von mir erwartete, perfekt zu sein.
    »Colin ist ein Fiesling«, sagt meine Mutter abfällig. »Gott sei Dank kommt Faith nach dir.« Sie tätschelt meine Schulter. »Erinnerst du dich noch daran, wie du in der fünften Klasse mit einer Zwei minus in Mathe nach Hause gekommen bist? Und du hast geweint, weil du dachtest, wir würden dich ausschimpfen. Dabei war es uns völlig egal. Du hattest dein Bestes gegeben, und nur das allein zählte. Du hattest es versucht. Und das ist mehr, als ich heute von dir behaupten kann.« Sie blickt durch die offene Tür hinüber ins Wohnzimmer, wo Faith mit Buntstiften auf dem Fußboden sitzt und malt. »Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass die Aufgabe, ein Kind zu erziehen, niemals abgeschlossen ist?«
    Faith greift nach einem orangefarbenen Stift und kritzelt wüst auf einem Stück Pappe herum. Ich erinnere mich daran, wie sie im vergangenen Jahr das Alphabet gelernt hat. Sie hatte eine lange Folge von Konsonanten gekritzelt und mich gefragt, was sie da geschrieben hätte. »Frzwwlkg« hatte ich vorgelesen, was sie zu meiner eigenen Überraschung zum Lachen gebracht hatte.
    »Geh schon.« Meine Mutter schiebt mich in Richtung Wohnzimmer.
    Als Erstes stolpere ich über die Buntstiftdose. »Tut mir leid.« Ich sammle die verstreuten Stifte ein und lege sie zurück in die Keksdose, in der wir sie aufbewahren. Als ich fertig bin, hocke ich mich hin und begegne Faith’ kaltem Blick.
    »Es tut mir leid«, sage ich erneut, wobei ich diesmal nicht die Buntstifte meine.
    Als Faith hierauf nicht reagiert, schaue ich auf die Pappe, die sie bemalt hat. Eine Fledermaus und eine Hexe, die um ein Feuer herumtanzen. »Wow… das ist wirklich gut.« Mir kommt die Erleuchtung, und ich hebe das Bild vom Boden auf, um es genauer zu betrachten. »Darf ich das behalten und unten in meinem Atelier aufhängen?«
    Faith legt den Kopf schief, greift nach dem Bild und zerreißt es in der Mitte. Dann läuft sie nach oben auf ihr Zimmer und schlägt die Tür hinter sich zu.
    Meine Mutter kommt herein und wischt sich an einem Küchenhandtuch die Hände ab. »Das ist ja großartig gelaufen«, sage ich zynisch.
    Sie zuckt die Achseln. »Du kannst nicht über Nacht die Welt verändern.«
    Ich greife nach der einen Hälfte von Faith’ Kunstwerk und streiche mit den Fingern über das wächserne Relief der Hexe. »Ich glaube, das soll ich sein.«
    Meine Mutter wirft mit dem Küchenhandtuch nach mir. Unerwartet kühl landet es an meinem Hals. »Du denkst zu viel«, sagt sie.
    An diesem Abend betrachte ich mich beim Zähneputzen im Spiegel. Ich bin nicht unattraktiv, oder wenigstens hat man mir das in Greenhaven versichert. Pfleger, Schwestern und Psychiater sehen durch einen hindurch, wenn man ungepflegt herumläuft und sich beklagt; ein hübsches Gesicht hingegen wird bemerkt, man spricht mit ihm und beantwortet seine Fragen. In Greenhaven habe ich mir das Haar kurz schneiden lassen, sodass es meinen Kopf in honigfarbenen Wellen einrahmte. Ich schminkte mich, um das Grün meiner Augen zu betonen. Ich verwandte in diesen wenigen Monaten mehr Zeit auf mein Außeres als in meinem
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