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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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ganzen bisherigen Leben.
    Seufzend beuge ich mich zum Spiegel vor und wische mir einen Rest Zahnpasta aus dem Mundwinkel. Als Colin und ich hier eingezogen sind, haben wir den Badezimmerspiegel ausgetauscht. Der alte war an einer Ecke gesprungen. Das bringe Unglück, hatte ich gesagt. Wir wussten nicht, wie hoch wir den neuen Spiegel hängen sollten. Bei einer Größe von einem Meter zweiundsechzig entsprach meine Augenhöhe nicht der Colins. Er ist einen Kopf größer als ich, und als ich den Spiegel an die Wand hielt, lachte er. »Rye«, sagte er, »ich kann gerademal meine Brust sehen.«
    Also hängten wir den Spiegel stattdessen in der für ihn richtigen Höhe auf. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um mein ganzes Gesicht zu sehen. Ich war nie so ganz auf der Höhe.
     
    Mitten in der Nacht fühle ich, wie die Bettdecke sich bewegt. Ein Luftzug, dann schmiegt sich ein weicher Körper an mich. Ich drehe mich um und lege die Arme um Faith.
    »So würde es sein, wenn …«, flüstere ich in mich hinein, und ein Kloß schnürt mir den Hals zu, bevor ich den Gedanken zu Ende denken kann. Ihre Arme umklammern mich wie die Ranken einer Schlingpflanze. Ihr Haar unter meinem Kinn duftet nach Kindheit.
    Meine Mutter hat mir früher oft gesagt, dass man immer weiß, wohin man sich wenden kann, wenn es hart auf hart kommt. Dass eine Familie kein künstliches soziales Gefüge ist, sondern ein Instinkt.
    Der Flanellstoff unserer Nachthemden hakt und klebt. Still reibe ich Faith’ Rücken. Ich fürchte, etwas zu sagen, das diesen Augenblick zunichte macht, und so warte ich, bis ihr Atem gleichmäßig geht, ehe ich mir gestatte, selbst wieder einzuschlafen. Wenigstens das kann ich.
     
    Die Stadt, in der wir leben, New Canaan, ist groß genug, ihren eigenen Berg zu haben, klein genug, dass Gerüchte sich hartnäckig in den Ecken und Winkeln der verwitterten, mit Holzschindeln verkleideten Ladenfronten halten. Es ist eine Stadt aus Farmen und freiem Feld, eine Stadt einfacher Leute, die Seite an Seite leben mit Berufspendlern aus Hanover und New London, die in Immobilien ein wenig mehr für ihr Geld haben möchten. Wir haben eine Tankstelle, einen alten Spielplatz und eine eigene Bluegrass Band. Außerdem gibt es bei uns einen Rechtsanwalt, J. Evers Standish, an dessen Kanzlei ich auf der Route 4 eine Million Mal vorbeigefahren bin.
    Sechs Tage, nachdem Colin uns verlassen hat, steht ein Deputy des Sheriffs vor der Tür und fragt, ob ich Mrs. Mariah White bin. Mein erster Gedanke gilt Colin - hatte er vielleicht einen Autounfall? Der Polizist langt in seine Tasche und holt einen Umschlag hervor. »Tut mir leid, Ma’am«, sagt er und ist fort, bevor ich fragen kann, worum es überhaupt geht.
    Der erste konkrete Scheidungsantrag wird als Klageschrift bezeichnet. Hierbei handelt es sich um ein kleines Stück Papier, das, wenn man es in der Hand hält, das ganze Leben verändern kann. Ich erfahre erst Monate später, dass der Staat New Hampshire der einzige ist, der noch den Begriff Klageschrift verwendet, anstatt der moderneren Variante Scheidungsklage oder Scheidungsantrag, so als würde auch bei der einvernehmlichsten Trennung der Charakter des Beklagten infrage gestellt. Der Benachrichtigung liegt ein Dokument bei, auf dem steht, dass gegen mich ein Scheidungsverfahren eingeleitet worden sei.
    Eine halbe Stunde später sitze ich im Wartezimmer der Kanzlei von J. Evers Standish, Faith in einer Ecke zusammengerollt mit einem abgenutzten Spielzeugzug. Ich wollte sie eigentlich nicht mitnehmen, aber meine Mutter ist den ganzen Vormittag weg - um eine Überraschung für uns zu besorgen, wie sie sagte. Hinter der Empfangsdame öffnet sich eine Tür, und eine großgewachsene elegante Brünette kommt heraus. Sie reicht mir die Hand. »Ich bin Joan Standish.«
    Meine Kinnlade klappt herunter. »Wirklich?« In all den Jahren, in denen ich am Gebäude vorbeigefahren bin, habe ich mir J. Evers Standish als einen älteren Herrn mit Backenbart vorgestellt.
    Die Anwältin lacht. »Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war ich es noch.« Sie wirft einen Blick auf Faith, die ganz darin vertieft ist, einen Tunnel für ihren Zug zu bauen. »Nan«, bittet sie ihre Empfangsdame, »wären Sie so nett, ein Auge auf Mrs. Whites Tochter zu haben?« Und wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, folge ich der Juristin in ihr Büro.
    Das Seltsame ist, dass ich völlig ruhig bin. Nicht annähernd so erschüttert wie an dem Nachmittag, als
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