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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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hat sie geglaubt, Colin hätte mit ihr gesprochen. »O mein Gott«, ruft sie aus, errötet, zieht sich zurück und schlägt die Tür hinter sich zu.
    Ich nehme verschwommen wahr, wie Faith aus dem Schlafzimmer läuft, wie Colin ihr nachgeht, wie das Wasser in der Dusche abgedreht wird. Meine Knie geben nach, und plötzlich sitze ich auf dem Bett, auf dem Quilt mit den Eheringen, den Colin mir in Lancaster, Pennsylvania, gekauft hat, nachdem die Mennonitin, die ihn genäht hatte, ihm erklärt hatte, dass ein geschlossener Kreis das Symbol für eine perfekte Ehe sei.
    Ich vergrabe das Gesicht in den Händen und denke: O Gott, es passiert wieder.
     
    ERSTES BUCH Das Alte Testament
     
    KAPITEL 1
     
    Millionen geistiger Wesen wandern auf der Erde umher, von uns im Wachen wie im Schlafen unbemerkt.
    John Milton Paradise Lost
     
    ES GIBT GEWISSE Dinge, über die ich nicht spreche. Beispielsweise darüber, wie ich im Alter von dreizehn Jahren meinen Hund zum Einschläfern bringen musste. Oder wie ich, als ich noch auf der Highschool war, am Abend des Anschlussballs in meinem hübschen Kleid am Fenster gesessen und auf einen Jungen gewartet habe, der nie gekommen ist. Oder was ich empfunden habe, als ich Colin das erste Mal begegnet bin.
    Das heißt, darüber rede ich schon ein wenig, aber ich gebe niemals zu, dass ich von Anfang an wusste, dass wir nicht füreinander bestimmt waren. Colin war am College ein Football-Star; sein Coach hatte mich engagiert, um ihm Nachhilfe in Französisch zu geben. Er küsste mich — schüchtern, schlicht, unerfahren -, weil er mit seinen Teamkameraden gewettet hatte, dass er es tun würde, und trotz meiner Verlegenheit fühlte ich mich wie im siebten Himmel.
    Mir ist völlig klar, warum ich mich in Colin verliebt habe, aber ich habe nie verstanden, was er an mir gefunden hat.
    Er hat mir gesagt, dass er in meiner Gegenwart ein anderer Mensch wird - ein Mensch, den er lieber mag als den oberflächlichen Strahlemann, den lässigen Bruderschafts-Kumpel. Er sagte, ich gäbe ihm das Gefühl, bewundert zu werden für das, was er sei, und nicht für irgendetwas, das er getan habe. Ich widersprach, dass ich nicht gut genug für ihn wäre, weder groß noch schön oder elegant genug. Und als er widersprach, wollte ich ihm glauben.
    Ich spreche nicht über das, was fünf Jahre später passierte, als sich herausstellte, dass meine anfänglichen Zweifel begründet waren.
    Ich spreche nicht darüber, wie er mir nicht in die Augen sehen konnte, als er dafür sorgte, dass man mich wegsperrte.
     
    Es kostet mich unglaublich viel Kraft, die Augen zu öffnen. Sie fühlen sich geschwollen und kratzig an und wollen viel lieber geschlossen bleiben, um nicht zu riskieren, noch etwas zu sehen, das den Weltuntergang bedeuten könnte. Aber es liegt eine Hand auf meinem Arm, und vielleicht ist es Colin, also zwinge ich mich, sie gerade so weit zu öffnen, dass Licht eindringt, schneidend wie Glassplitter. »Mariah«, sagt meine Mutter mit beruhigender Stimme und streicht mir das Haar aus der Stirn. »Fühlst du dich besser?«
    »Nein.« Ich fühle gar nichts. Was immer Dr. Johansen mir telefonisch verschrieben hat, hat eine Art Schaumkissen um mich herum gebildet, eine Hülle, die sich mit mir bewegt, nachgibt und das Schlimmste von mir fern hält.
    »Es ist Zeit aufzustehen«, sagt meine Mutter nüchtern. Sie beugt sich vor und versucht, mich aus dem Bett zu ziehen.
    »Ich will nicht duschen.« Ich versuche, mich zusammenzurollen.
    »Ich auch nicht«, grunzt meine Mutter. Das letzte Mal, als sie das Zimmer betreten hat, hat sie mich ins Bad geschleift und unter die kalte Dusche gestellt. »Du wirst dich jetzt hinsetzen, verdammt noch mal, und wenn mich das vorzeitig ins Grab bringt.«
    Das erinnert mich an ihren Couchtisch und an den Ballettunterricht, zu dem Faith und ich vor drei Tagen nicht erschienen sind. Ich reiße mich von ihr los, schlage die Hände vor das Gesicht, und frische Tränen laufen über mein Gesicht, heiß wie Kerzenwachs. »Was ist los mit mir?«
    »Überhaupt nichts, ganz egal, was dieser Kretin dir auch einreden will.« Meine Mutter legt die Hände an meine brennenden Wangen. »Das ist nicht deine Schuld, Mariah. Du hättest es nicht verhindern können. Colin ist nicht den Boden unter seinen Füßen wert.« Sie tut, als würde sie auf den Teppich spucken, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Und jetzt setz dich hin, damit ich Faith hereinholen kann.«
    Das lässt mich aufmerken. »Sie
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