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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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sind nur noch knapp zwei Meilen vom Tanzstudio entfernt. »Herrgott, Faith. Warum hast du das denn nicht früher gesagt?«
    Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Ich habe eben erst gemerkt, dass du zur Ballettschule fährst.«
    Ich schlage mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Ich weiß selbst nicht, ob ich wütend auf Faith bin, auf das Wetter, auf meine Mutter oder auf die verfluchte Sprinkleranlage im Supermarkt. Scheinbar hat sich heute alles gegen mich verschworen. »Wir fahren jeden Mittwoch nach dem Mittagessen zum Ballett!«
    Ich fahre wieder los, wende und ignoriere den Anflug von schlechtem Gewissen, der mir sagt, dass ich zu streng zu ihr bin, dass sie doch erst sieben ist. Die weinende Faith fängt an zu schreien. »Ich will nicht nach Hause! Ich will zum Ballett!«
    »Wir fähren nicht nach Hause«, erwidere ich durch zusammengebissene Zähne. »Wir holen nur dein Trikot und fahren dann zur Tanzschule.« Wir werden zwanzig Minuten zu spät kommen. Ich stelle mir die Blicke der anderen Mütter vor, die beobachten, wie ich mitten während des Unterrichts Faith durch die Tür schiebe. Mütter, die es geschafft haben, trotz des sintflutartigen Regens ihre Kinder pünktlich zum Unterricht zu bringen, Mütter, die sich nicht so anstrengen müssen, damit alles ganz leicht aussieht.
    Wir leben in einem hundert Jahre alten Farmhaus mit einem Wald auf der einen und einer langgezogenen Steinmauer auf der anderen Seite. Unser drei Hektar großes Grundstück ist auf der Rückseite zu einem großen Teil bewaldet; das Haus selbst steht aber nah genug an der Straße, dass nachts das Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos über unsere Betten hinweggleitet wie das Signallicht eines Leuchtturms. Das Farmhaus selbst ist voller ansprechender Widersprüche: eine durchhängende Veranda und dahinter brandneue Isolierfenster, eine freistehende Badewanne mit modernem Massage-Duschkopf, Colin und ich. Die Zufahrt ist leicht abschüssig und steigt an der Straße ebenso wie kurz vor dem Haus leicht wieder an. Als wir von der Straße abbiegen, schnappt Faith freudig nach Luft. »Papa ist zu Hause! Ich möchte ihn sehen.«
    Ich ebenfalls, aber so geht es mir ständig. Offenbar hat er einen früheren Flug erwischt und ist zum Mittagessen heimgekommen, bevor er wieder ins Büro fährt. Ich denke an die anderen Mütter, die bereits auf dem Parkplatz des Ballettstudios sind, und dann denke ich daran, Colin wiederzusehen, und plötzlich sage ich mir, dass zwanzig Minuten Verspätung so schlimm auch wieder nicht sind. »Wir sagen Papa hallo, dann holst du dein Trikot, und wir fahren zum Ballett.«
    Faith stürmt durch die Tür wie ein Marathonläufer durch das Zielband. »Papa!«, ruft sie, aber es ist niemand in der Küche und im Wohnzimmer, nur Colins Aktentasche steht mitten auf dem Tisch, als einziger Hinweis darauf, dass er da ist. Ich kann Wasser durch die alten Leitungen fließen hören. »Er ist unter der Dusche«, sage ich, und Faith läuft sogleich nach oben.
    »Warte!«, rufe ich, sicher, dass es Colin nicht Recht wäre, von Faith überrascht zu werden, wenn er nackt im Schlafzimmer herumläuft. Ich haste ihr nach und bin noch vor Faith an der verschlossenen Schlafzimmertür. »Lass mich zuerst reingehen.«
    Colin steht neben dem Bett und wickelt sich ein Handtuch um die Hüften. Als er mich in der Tür stehen sieht, erstarrt er. »Hi«, sage ich lächelnd und umarme ihn. »Ist das nicht eine schöne Überraschung?«
    Den Kopf in seine Halsbeuge geschmiegt und seine Arme lose um meine Taille geschlungen, nicke ich Faith zu. »Du kannst reinkommen. Papa ist angezogen.«
    »Papa!«, ruft sie und stürzt geradewegs auf seinen Schritt zu, etwas, worüber wir schon oft gelacht haben und das ihn dazu veranlasst, sich ein wenig zu bücken.
    »Hi, Schätzchen«, sagt er, blickt aber über Faith’ Kopf hinweg, als würde noch ein anderes Kind im Hintergrund warten. Dampf dringt durch den Spalt unter der geschlossenen Badezimmertür.
    »Wir könnten ihr ein Video einlegen«, flüstere ich Colin ins Ohr und schmiege mich noch enger an ihn. »Das heißt, wenn du jemanden brauchst, der dir den Rücken schrubbt.«
    Aber anstatt zu antworten, löst Colin linkisch Faith’ Arme von seiner Taille. »Liebes, vielleicht solltest du …«
    »Was sagst du?«
    Wir alle wenden uns der Stimme aus dem Badezimmer zu. Die Tür schwingt auf, und eine tropfnasse, nur unzureichend von einem Badetuch verhüllte fremde Frau steht vor uns. Offensichtlich
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