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Die Vogelfrau - Roman

Die Vogelfrau - Roman

Titel: Die Vogelfrau - Roman
Autoren: Ulrike Blatter
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Wand hingen Fotos von Kindern in altmodischer Kleidung, wie man sie in den 50er-Jahren getragen hatte. Bordürenverzierte Kleidchen und Hängerchen bei den Mädchen. Karierte Hemden und Lederhosen bei den Buben. Straffe Zöpfe die Mädchen, Wasserscheitel die Buben. Die Kinder sahen aus wie Puppen. An der gegenüberliegenden Wand hingen Fotos von zerbrochenen Zelluloidpuppen. Zerschlagene Köpfe und verrenkte Glieder. Bordürenverzierte Kleidchen und karierte Hemden. Die Puppen sahen auf eine erschreckende Weise aus wie Kinder.
    Ihm war übel geworden und er hatte das Café überhastet verlassen.
    In dieser Zeit hatte er kaum noch Kontakt zu seiner Tochter gehabt, obwohl – und das gestand er sich nur widerstrebend ein – er gerne einmal stolz auf sie gewesen wäre. Auf diese Fotos jedoch konnte er nicht stolz sein. Sie waren nur peinlich.
    Damals hatte er sich jedoch aufgerafft und die Initiative ergriffen. Er hatte sich durchgesetzt, als Eva von diesem Unsinn einer künstlerischen Laufbahn faselte. Damals hatte er seine Vaterrolle wirklich einmal ernst genommen und auch Brigitte mit seinen Argumenten überzeugen können.
    Fotografieren, das sei ein schönes Hobby – so hatte er entschieden –, ein Hobby, aber keinesfalls mehr. Ihren Lebensunterhalt sollte Eva unbedingt auf andere Weise verdienen.
    Den Ausbildungsplatz zur Verwaltungsfachangestellten hatte sie dann ziemlich schnell. Das Landratsamt, ihr zukünftiger Arbeitsplatz, lag dem Polizeipräsidium schräg gegenüber.
    Damals hatte Bloch sich sogar gefreut. Man könnte gelegentlich miteinander zum Mittagessen gehen, hatte er sich überlegt. Er kannte Eva ja kaum. Seit ihrer Pubertät hatte sie sich immer mehr von ihm zurückgezogen und der sowieso nur sporadische Kontakt war völlig abgerissen.
    Wenn sie die Ausbildung gemacht hätte – vielleicht hätten sie dann die Möglichkeit gehabt, das Versäumte nachzuholen? Zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Wiederaufbau einer Vater-Tochter-Beziehung war es aber nicht mehr gekommen; kurz nach Beginn der Ausbildungszeit hatten Evas undurchsichtige Krankheiten begonnen.
    So blieben sie sich weiterhin fremd.
    Bloch überquerte die Hauptstraße vor dem Bahnhof und bewegte sich mit raschen Schritten in Richtung Hafen.
    Das barbusige, grotesk überdimensionierte Standbild der Imperia war gegen die sibirische Kälte immun.
    Imperia, die kaiserliche Hure oder die göttliche Liebhaberin. Es kam ganz auf den Blickwinkel an, unter dem man die Figur des Bildhauers Lenk sehen wollte. Diese viel belächelte und viel gehasste Darstellung strotzender Weiblichkeit spreizte ihre Röcke und zeigte ihre hohen, blassen Schenkel. Unmerklich drehte sie sich um die eigene Achse, lächelte tumb ins Altstadtgewirr oder ließ sich das Gesicht und die Brüste vom steifen Ostwind bespringen, der ungebremst über die weite offene Seefläche fegte.
    Verhutzelt und in sich zusammengesunken saßen die Repräsentanten männlicher Macht auf ihren ausgestreckten Handflächen, Kaiser und Papst. Bloch wandte den Blick ab. Zu oft und zu schmerzlich hatte er sich schon selbst in den froschbäuchigen Gestalten wiedererkannt.
    Eva war seit wenigen Tagen in einer Rehabilitations klinik in Norddeutschland. Während ihrer Zeit in der Psychiatrischen Klinik Reichenau hatte sie sich geweigert, ihren Vater zu sehen. Die behandelnde Ärztin auf der Reichenau meinte, körperlich sei bei ihr kein bleibender Schaden festzustellen. Es sei aber fraglich, ob Eva in absehbarer Zeit wieder in den normalen Arbeitsprozess eingliederbar sei. Sie würde sehr wahrscheinlich noch länger Unterstützung selbst in Alltagsangelegenheiten benötigen.
    Bei diesem Gespräch war auch Brigitte anwesend gewesen. Während die Ärztin sprach, hatte Bloch geradeaus geschaut. An der Zimmerwand hinter dem Rücken der Ärztin hing eine Grafik von Miro.
    Als die Ärztin aufhörte zu sprechen, schloss Bloch die Augen. Da sah er die wilden Pinselstriche und Kreise des Gemäldes in Fehlfarben auf der Innenseite seiner Augenlider abgebildet. Mehr war da nicht.
    Brigitte schwieg.
    Bloch war wie betäubt. Er fühlte sich leer. Amputiert.
    Vor der Klinik waren er und Brigitte ohne ein Wort des Abschieds auseinander gegangen.
    Danach hatte Bloch ein paar Tage frei genommen. Es wäre an der Zeit gewesen, sich ein wenig zu erholen. Bloch konnte sich nicht im Geringsten daran erinnern, wann er sich zum letzten Mal erholt gefühlt hatte.
    In diesem Winter herrschte eine ungewöhnliche Trockenheit.
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