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Die Vogelfrau - Roman

Die Vogelfrau - Roman

Titel: Die Vogelfrau - Roman
Autoren: Ulrike Blatter
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1. Kapitel
    Früher hatte es an den Kleidern kleiner Mädchen solche Zierbordüren gegeben. Bordüren mit fröhlichen, kindlichen Motiven. Kleine Marienkäfer. Schnäbelnde Gänschen. Glücksklee. Fliegenpilze. Damals trugen Kinder andere Kleidung als die Erwachsenen. Da gab es noch keine künstlich abgewetzten Lederblousons und Markenjeans für Wickelkinder. Erst kürzlich war ein deutsches Versandhaus nach einem Rechtsstreit dazu gezwungen worden, String-Tangas für Vierjährige aus dem Sortiment zu nehmen.
    Schützte kindgemäße Kleidung die Kleinen? Wenn ja – wovor?
    Kommissar Bloch betrachtete die hoch aufgeschossene, viel zu magere Gestalt seiner Tochter. Sie stand dicht bei der Tür, die Klinke in der Hand. Reinkommen oder abhauen? Ihre Augen waren unstet, wichen seinem Blick aus.
    Hatte sie als Kind zu wenig Bordüren an ihren Kleidchen gehabt? Hätte er einen besseren Schutzzaun um sie errichten müssen? Mit Marienkäferchen und Glücksklee? Oder doch besser aus giftigen Fliegenpilzen?
    Auch ihre Stimme hatte etwas Unbestimmtes. Sie klang verwaschen, ausgeleiert und rau.
    Sie wollte Geld.
    Wie schon so oft.
    »Eva, du weißt doch, von mir bekommst du nichts. Frag deine Mutter.«
    Die hat dir sowieso schon zu viel gegeben, dachte er. Viel zu viel und viel zu lange.
    »Meinst du nicht, es wird allmählich Zeit für dich, erwachsen zu werden? Wie alt bist du eigentlich?«
    »Das dachte ich mir, dass du noch nicht mal mein Alter weißt. Typisch für dich.«
    Das war eine rhetorische Frage, dachte der Kommissar. Nur eine rhetorische Frage. Es war erst halb neun, die Sonne schien endlich einmal wieder. Es war erst halb neun, aber er fühlte sich ausgelaugt und müde.
    Tagelang hatte Konstanz unter einer dichten Nebelschicht gebrütet. Die Altstadt und das Seeufer schienen wie eingehüllt in dicke, feuchte Tücher. Ein diffuses, halbblindes Licht hatte seine Tage überschattet und rief eine unbestimmte Mattigkeit, eine Art seniler Melancholie hervor. Jetzt kam die Sonne heraus – aber die resignierte Erschlaffung blieb.
    Ermüdete ihn seine Tochter? Sein einziges Kind. Das schwarze Schaf.
    War es die Arbeit? Über 30 Jahre Polizeiarbeit. Manchmal dachte er über Altersteilzeit nach.
    »Du bist 25 – und du weißt genau, dass ich es weiß.« Der Versuch eines Lächelns.
    Ihr Gesicht. Ausdruckslos. »Ich meine nur, weißt du was es bedeutet, 25 Jahre alt zu sein? Ich habe in deinem Alter meine zukünftige Frau kennengelernt.«
    Müßig diese ganze Diskussion. Überflüssig die Erwähnung ihrer Mutter. Er kannte die Antwort bereits.
    Und die Antwort kam. Trocken und überaus präzise. »Ja, und kaum war ich geboren, wurde dir alles zu viel und du bist abgehauen!« Jetzt traf ihn ihr Blick. Dunkle Augen. Schwarze Kohlen. Glut.
    Dabei war alles ganz anders gewesen.
    Aber es war belanglos – genau wie all die anderen Sätze, die sie zueinander sagten. Die sie sich immer wieder sagten, schon seit Jahrzehnten. Stereotyp. Wie nach dem Skript eines überaus widerwillig auswendig gelernten Drehbuches.
    Es war Oktober. Montagmorgen.
    Das Telefon schrillte nicht. Es waren stille Stunden. Der Kommissar hatte Berge von Routinearbeit vor sich.
    Er hatte keine Zeit für seine Tochter.
    Vor allem dann nicht, wenn sie Geld wollte.
    Immer wollte sie Geld von ihm.
    Nur Geld.
    Das bekam sie aber nicht. Nicht mehr. Nicht von ihm.
    »Besser, du gehst jetzt.«
    Sie blieb. Trotzig.
    »Diesmal ist es anders. Diesmal will ich eine Therapie machen.«
    Der Kommissar blickte auf. »Das ist ja wirklich mal was Neues.« Konnte man ihr trauen?
    »Wieso brauchst du dann Geld? Bei deinem Zustand zahlt das jede Krankenkasse. Du musst nur zum Arzt gehen. Was du brauchst, ist ein Attest oder – noch besser eine Einweisung – aber sicher kein Geld.«
    Es waren zu viele Worte. Sie verschloss sich augenblicklich.
    »Es ist anders, Papa.«
    Ungewohnt dieses Wort. Normalerweise nannte sie ihn beim Vornamen. Erich. Machte manchmal, wenn sie gut gelaunt war, ein Wortspiel daraus. Dann nannte sie ihn Ehrlich.
    Und dachte: Lügner.
    »Es ist privat.«
    »Was heißt das? Privat? Auch für Privatkliniken kann man Zuschüsse von der Kasse bekommen. Hier am Bodensee gibts so viele Fachkliniken für ...« Er vermied das Wort Sucht. Vermied das Wort Essstörung, suchte nach einer unverfänglichen Vokabel. Stockte. Zögerte zu lange. Ihr Blick begann schon wieder zu zucken. Hin und her. Hin und her. »Kliniken für Psychosomatik oder so.« Er brachte es kaum
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