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Die Vogelfrau - Roman

Die Vogelfrau - Roman

Titel: Die Vogelfrau - Roman
Autoren: Ulrike Blatter
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Das Wasser des Bodensees hatte sich stark zurückgezogen. Über weite Strecken lag der Seegrund nackt und bloß. Organismen, die zum Überleben auf den ständigen Wellenschlag angewiesen waren, starben in Massen ab. Das einzig Erfreuliche war, dass es im nächsten Sommer weniger Stechmücken geben würde; auch ihre Brut erlag der Kälte und der Trockenheit. Vor dem Konstanzer Hafen erhoben sich plötzlich flache Inseln, auf denen sich Kolonien von Wasservögeln drängten, die hier ihr Winterquartier nahmen. Kormorane spreizten ihre knochigen Flügel, Scharen von Schellenten flogen mit panisch klingelndem Flügelschlag auf und weiter draußen wogte ein dichter Teppich zierlicher Blässhühner. Alle hatten ihre Schnäbel in den Wind gedreht. Jeder Vogel erschien als die perfekte Kopie des nächsten.
    Churchill winselte und zog an der Leine.
    Bloch tat ihm den Gefallen und ließ ihn zwischen den klobigen Steinen herumschnüffeln, die am Fuße der Hafenmauer lagen. Nun befanden sie sich weit unterhalb der normalen Wasserlinie, die sich als bleicher Strich an der hohen Hafenmauer abzeichnete.
    Ein alter Mann saß dort unten und starrte regungslos zum Horizont.
    Churchill steckte seine Nase in die Ritzen und Spalten zwischen den Steinen, auf denen eine festgefrorene Schicht aus Moos und Algen klebte. Immer wieder kehrte er zu dem alten Mann zurück, der aber keinerlei Reaktion zeigte. Er hatte eine schmuddelige Wollmütze tief in die Stirn gezogen und den roten Schal mehrfach um den Hals gewickelt. Er trug einen altmodischen Wollmantel mit Fischgrätmuster. Der Mantel war ihm zu groß, trotzdem wirkte er wie ausgestopft. Offensichtlich trug der Mann mehrere Schichten Kleidung darunter.
    Plötzlich griff der Mann in die Manteltasche. »Komm her, Churchill«, rief Bloch. »Lass den Mann in Ruhe.«
    Aber Churchill hörte nicht auf ihn. Erwartungsvoll und mit bittender Miene hatte er sich vor dem Mann mit dem Fischgrätmantel niedergelassen. Sein Hinterteil schwebte dabei einige Zentimeter über dem gefrorenen Boden; auch Churchill fror erbärmlich.
    Schnorrer, dachte Bloch. Er ließ den Verschluss der Leine auf- und zuschnappen und ging langsam auf die beiden zu.
    Der Mann hatte mit zitternden Händen ein Päckchen Tabak sowie Zigarettenpapierchen aus der Manteltasche gefischt. Er trug graue Wollhandschuhe mit abgeschnittenen Fingern. Seine Fingerkuppen waren nikotinfleckig, die Nägel ungepflegt und schmutzig.
    Der alte Mann versuchte, mit froststarren Fingern vergeblich eine Zigarette zu drehen. Nach einer Weile gab er auf. Er steckte den Tabak wieder zurück und begann in der anderen Manteltasche zu graben.
    Churchill schöpfte neue Hoffnung und gab einen leise winselnden Laut von sich.
    Aber es war nur ein Flachmann, den der Mann hervorzog. Prüfend schüttelte er das Fläschchen, drehte leise vor sich hin murmelnd den Verschluss ab und trank mit weit in den Nacken zurückgelegtem Kopf. Seine nackte, graustoppelige Halshaut tauchte aus dem Rot des Wollschals auf, hastig ruckte der Adamsapfel und dann zog sich der Hals wieder ziehharmonikaartig zusammen.
    Hühnerhaut, dachte Bloch ohne jegliche emotionale Beteiligung.
    »Churchill, komm jetzt endlich. Hopp!« Bloch schnalzte mit der Zunge. Der Hund hatte offensichtlich eingesehen, dass hier nichts zu holen war, trottete frustriert zu Bloch und ließ sich widerstandslos anleinen. Bloch stieg wieder hoch zur Uferpromenade und ging in Richtung Stadtgarten.
    Auf dem Kinderspielplatz herrschte ungewohnte Stille.
    Ein in Winterkleidung dick eingemummeltes Mädchen schwang leise und vorsichtig eine großäugige Puppe auf einer Schaukel hin und her. Bloch schaute ihr zu. Die Kleine musterte ihn, wandte ihren Blick aber jedes Mal ab, wenn er versuchte ihr zuzulächeln.
    Die Puppe war mit einem Sommerkleidchen aus dünnem, geblümtem Stoff bekleidet. Ihre steif ausgestreckten, rosafarbenen Plastikbeine waren vollkommen nackt.
    »Friert deine Puppe nicht?«, fragte Bloch.
    Das Mädchen nahm mit einer hastigen Bewegung die Puppe in den Arm. Sie war höchstens acht Jahre alt. Eher noch jünger. Sie rannte weg, ohne sich auch nur einmal nach ihm umzusehen.
    Eigentlich war es ja wie ein schlechter Witz und ein unglaublicher Zufall obendrein, dass gerade der kühl planende Professor Hoffmann dem falschen Schamanen Adler in die Quere kam.
    Dieser frisch angelegte Ritualort samt Schädeln und Hexenstern kam für Adler gerade zum richtigen Zeitpunkt. Kein Zweifel, er hatte davon in der
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