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Die Vogelfrau - Roman

Die Vogelfrau - Roman

Titel: Die Vogelfrau - Roman
Autoren: Ulrike Blatter
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Zeitung gelesen – und was lag näher, als die in ewigen Schlaf versunkene Sacajawea dort aufzubewahren.
    Trotz vieler Gespräche, auch unter Hinzuziehung eines erfahrenen Psychologen, war es immer noch nicht klar, wie glaubwürdig Adler war.
    Folgte man seiner Version und der seiner Frau, so hatten beide fest daran geglaubt, dass nach Ablauf einer nicht näher bestimmbaren Frist Sacajawea wieder zu neuem Leben erwachen würde. Ihnen sei absolut nicht bewusst gewesen, dass die junge Frau schon seit Monaten tot war. Verhungert und verdurstet im Rahmen eines bizarren Reinigungsrituals, das angeblich indianischen Ursprungs war.
    Ein Ritual, dem um ein Haar auch Eva zum Opfer gefallen wäre.
    Eigentlich könnte er sich mit Cenk verabreden. Seit Langem wollten sie einmal auf ein Glas Bier in die Altstadt gehen. Auch Cenk hatte frei. Sein Handy jedoch reagierte nicht. Eine synthetische Stimme erklärte Bloch, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei. Er hinterließ keine Nachricht auf der Mailbox.
    ›Aufbewahrung über einen längeren Zeitraum an einem kühlen und luftigen Ort‹. So hatte der Rechtsmediziner Zumkeller den Zustand der Mumie erklärt. Oder war es Binder gewesen, der ewig enttäuschte Oberpräparator? Den luftigen Ort hatten sie schnell gefunden, es war das Bett Sacajaweas; ein einfaches Holzbett, aus dem die Matratze herausgenommen worden war. Die Leiche der jungen Frau hatten sie dann auf dem Lattenrost gelagert. Sacajawea war im Herbst des vorigen Jahres gestorben. Es war noch warm gewesen, aber nicht so warm, dass die Fäulnis sofort begonnen hätte. Da im Haus sämtliche Fenster Tag und Nacht offen standen, ging ein beständiger Luftzug, der die Leiche allmählich austrocknete und mumifizierte. Normalerweise wären um diese Jahreszeit die Fliegen gekommen. Fliegen haben ein feines Sensorium dafür, ob etwas noch lebt oder nicht. Sie legen ihre Eier in Minutenfrist ab und die Leiche hätte eigentlich von Maden wimmeln müssen. Sacajawea zeigte jedoch keinen Madenbefall. Lediglich in ihrem Körperinneren hatten sich ein paar Speckkäfer eingenistet und es fanden sich die dürftigen Gespinste von abgestorbenen Lebensmittelmotten.
    Das grenze an ein Wunder, war Bloch herausgerutscht, als sie in der Konstanzer Pathologie die mittlerweile stark verwesten Reste der Mumie mit angehaltenem Atem betrachteten. Immerhin hatte er schon zahllose Wohnungsleichen gesehen, von denen keine einzige komplett frei von Maden gewesen war. Der Rechtsmediziner hatte es wesentlich nüchterner erklärt. War es nicht so, dass die Mutter ununterbrochen am Lager ihrer Tochter saß und auf sie achtete? Topsannah hatte offensichtlich alle Fliegen verjagt, die sich auf Sacajaweas Körper niederlassen wollten. Das war die einfachste und gleichzeitig plausibelste Erklärung, beschlossen sie einvernehmlich.
    Sie hatten Topsannah mit dem fehlenden Madenbefall konfrontiert. Topsannah hatte die Vernehmungsbeamten angesehen, als seien diese nicht bei Verstand. Es sei doch absolut klar, warum die Fliegen den Körper Sacajaweas gemieden hätten. Warum sie nicht selber darauf kommen könnten und sie mit solchen widerlichen Fragen quälen müssten? Das Mädchen habe zu diesem Zeitpunkt ja noch gelebt – niemals würden Fliegen ihre Eier auf etwas legen, das noch lebe –, das müssten gerade sie, sozusagen als Fachleute, doch wissen. Gerade der fehlende Madenbefall sei ein Beweis dafür, dass Sacajawea erst in dem Moment gestorben sei, als der Professor ihre Totenruhe störte.
    Geschlossenes Wahnsystem, so nannte es der Psychologe von der Reichenau.
    Litt auch Eva unter einem geschlossenen Wahnsystem?
    Hatte sie das Gefühl, dass ihr Vater sie um eine wichtige spirituelle Erfahrung betrogen hatte? Wäre sie glücklicher gewesen dort, wo sie hinwollte?
    Wollte sie deshalb nicht mehr mit ihm sprechen?
    Bloch spielte mit dem Handy in seiner Jackentasche. Später würde er Cenk noch mal anrufen. Später. Es war eigentlich viel zu früh am Tag, um ein Bier zu trinken. Und viel zu kalt.
    Aus der Perspektive des geschlossenen Wahnsystems betrachtet, erschien der Fortgang der Geschichte durchaus logisch. Gemeinsam mit Adler, dem Meister, hatten sie in endlosen Befragungen rekonstruieren können, dass das Mädchen etwa ein Jahr auf die beschriebene Weise aufbewahrt worden war. Topsannah war nicht in der Lage, genaue Zeitangaben zu machen. Adler jedoch, dieser Naturmensch und Schamane, war überaus präzise. War das etwa ein Hinweis darauf, dass
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