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Außer Atem - Panic Snap

Außer Atem - Panic Snap

Titel: Außer Atem - Panic Snap
Autoren: Laura Reese
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Vor dem Urteil
    Ich darf nicht an das Urteil denken. Ich darf nicht. Aber natürlich denke ich daran. Ich kann an nichts anderes denken. Ich starre auf die Uhr, beobachte, wie die Zeit vergeht, und frage mich, wann die Geschworenen endlich zu einer Entscheidung gelangen. Ich kann die Uhr dort oben durch den schmalen Fensterschlitz klar und deutlich hängen sehen. Sie ist altmodisch – mit einem runden Zifferblatt, großen schwarzen Zahlen und einem unaufhörlich vorwärts ruckenden roten Sekundenzeiger, der die Zeit dahinticken lässt. Keine blinkenden Digitalzahlen, hier nicht. Ich schaue wieder hin. Der rote Sekundenzeiger wandert stetig und unerbittlich weiter: fünf Stunden lang schon, und noch immer gibt es kein Urteil.
    Wegen meiner Verletzungen humpelnd, bin ich langsam auf und ab gegangen, von der grauen Westwand zur verschlossenen Tür und zurück, ein kurzer Weg, ein paar Schritte nur. Die ersten ein, zwei Stunden waren gar nicht so schlimm. Meine Anwälte kamen, sprachen mir ein wenig Mut zu und blieben eine Weile bei mir. Trotz ihrer aufmunternden Worte spürte ich, dass sie Zweifel haben, was den Ausgang betrifft, doch ihre Anwesenheit beruhigt mich. Jetzt gehe ich allein auf und ab und beobachte die Uhr, und mit jeder weiteren Stunde wird es schlimmer. Worüber denken andere Menschen nach, frage ich mich, während sie warten? Worüber? Bei mir überwiegt die Furcht, darüber denke ich nach. Als ich festgenommen wurde, versicherten mir meine Anwälte, dass die Sache fallen gelassen und es nicht einmal zu einem Prozess kommen würde. Sie haben sich geirrt. Über mein Schicksal, mein Leben, werden zwölf Geschworene entscheiden, doch ich habe im Laufe der Jahre gelernt, dass die Gerechtigkeit sich nicht immer durchsetzt.
    Ich lege meine Stirn gegen die Wand, einfach um der Kühlung willen; die kalten Steine wirken besänftigend und bringen diesem Gesicht, das wieder einmal zerschunden ist, ein wenig Erleichterung. Ich befinde mich im zweiten Stock des Gerichtsgebäudes, und vor meiner Tür steht eine Wache. Genau genommen ist es eine Zelle, doch sie nennen es Warteraum, eine Art Zwischenlager für diejenigen, deren Urteil bald gefällt wird. Befinden sie mich für unschuldig, komme ich frei; wenn das Urteil ‘schuldig’ lautet, bleibe ich.
    Zwei Wachen – die ich noch nicht kenne – gehen schnell an meiner verschlossenen Tür vorbei. Sie schauen durchs Fenster, wollen einen Blick auf mich erhaschen, sind neugierig auf die Frau, deren Verbrechen Schlagzeilen gemacht hat. Eine heftige, fast greifbare Spannung hängt in der Luft, schmerzhaft wie stechende Dornen. Die Wachen warten genauso auf das Urteil wie ich. Jeder möchte es hinter sich haben.
    Ich lege beide Hände an die Wand und fühle die kühle Betonstruktur. Meine Fingernägel, die einmal lang und gepflegt waren, mit rotem oder rosafarbenem Lack bemalt, sind hin, vollkommen abgeknabbert. Vorhin, zu Mittag, habe ich einen Apfel gegessen, das Einzige, was ich zu mir nehmen konnte. Sehr süßer Saft rann mir übers Kinn. Ich habe ihn nicht abgewischt. Stattdessen habe ich mich an die Zellenwand gelehnt, die Augen geschlossen und den Apfel verschlungen, als hätte ich noch nie zuvor einen gegessen. Ich dachte über glücklichere Zeiten nach, Zeiten, in denen ich verliebt war, wirklich verliebt. Wir hatten uns einen Nachmittag von der Weinkellerei freigenommen und machten eine Bergwanderung; in der Luft lag der Geruch von Humus und Baumrinde. Er sagte, ich hätte eine so unbekümmerte Art, mein Gang sei so leicht und schwungvoll wie der eines jungen Mädchens auf dem Weg zu einem heimlichen Abenteuer; jeder könne mir ansehen, dass ich wisse, dass an diesem Tag nichts Schlimmes geschehen werde.
Unbekümmert, leicht und schwungvoll
 – Worte, die im Zusammenhang mit mir nicht oft fielen. Mein Haar war blond und kurz, ein knabenhafter Schnitt, und an jenem Morgen trug ich ausgetretene Tennisschuhe, verblichene Blue Jeans und ein schwarzes T-Shirt, auf dem in zuckerwattigem Rosa stand: »Süß– aber nicht unschuldig«. Er sagte, von hinten sähe ich mit meiner schmalen Gestalt und den leicht muskulösen Armen wie ein Teenager aus, doch sobald ich mich umdrehte, könne jeder sehen, dass ich eine Frau von Ende zwanzig, vielleicht auch Anfang dreißig sei, schwer zu sagen bei meinem Gesicht, meinte er, glatt, ohne Falten, ungewöhnlich, ein bisschen merkwürdig, nicht leicht zu beschreiben – und dabei strich er mir über die Wange –, doch mit
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