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Außer Atem - Panic Snap

Außer Atem - Panic Snap

Titel: Außer Atem - Panic Snap
Autoren: Laura Reese
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dann lege ich die Stirn wieder gegen die graue Wand, fühle wieder den kühlen Beton und sehne mich nach meiner Mutter, nach der Wärme mütterlicher Liebe, die bedingungslos und immer beschützend ist. Wo ist meine Mutter?
    Ich versuche, an etwas anderes zu denken.
    Ein Zeitungsreporter hat mich Madame de Sade getauft. Und die Sensationspresse, die sich auf diesen Spitznamen stürzte, hat es noch weiter getrieben – dort hieß es, dass ich Seelen verkaufe, Menschenfleisch esse und mich an blutigen heidnischen Orgien beteilige, bei denen es um Sex geht. Sie haben mich zum Ungeheuer gemacht, weil Ungeheuer eine leichte Beute sind. Die Wahrheit ist viel einfacher. Ich bin im Napa Valley, im Haus der McGuanes aufgetaucht, weil ich Antworten wollte. Sie wussten nicht, wer ich war – wer ich wirklich war – und vielleicht ist die Wahrheit nie so einfach, aber es sollte niemand verletzt werden, am allerwenigsten ich selbst. Zwei Menschen haben alles verändert. Einer wollte mich retten, der andere mich vernichten. Ich habe nicht vorausgesehen, wer mich zu Fall bringen würde. Ich habe es nicht kommen sehen. Ich dachte, ich wäre raffinierter, klüger, gerissener. Ich habe mich geirrt.
    Einmal mehr schaue ich zur Uhr. Noch immer gibt es kein Urteil. Und niemand ist bei mir, während ich warte, kein Angehöriger, kein Freund. Ich sitze auf einem Stuhl und schließe die Augen. Ich erinnere mich an die Anfangszeile einer Geschichte von Dickens, die ich im College gelesen habe: »Ob ich der Held meines eigenen Lebens sein werde oder ob ein anderer diese Position einnehmen wird, werden die folgenden Seiten zeigen.«Über mich wird es keine Seiten, keine Geschichte geben, die andere lesen könnten. Die Menschen werden sich an das erinnern, was in den Zeitungen gestanden hat. Ich werde mich erinnern, soweit ich kann. Nur eines ist gewiss: Ich bin keine Heldin.

Außer Atem

1
    Mein Leben begann, als ich siebzehn war. An die Zeit davor habe ich keinerlei Erinnerung. Es hat mich zwar eine Mutter geboren, aber für sie bin ich jetzt verschwunden, und der Mensch, den ich für meinen einzigen Erzeuger halte, ist der Landarbeiter, der mich eines frühen Morgens bewusstlos an der Landstraße 104 südlich von Davis gefunden hat, auf einem brachen, mit Tau bedeckten Feld. Wie ein Neugeborenes war ich blutig und nackt. Man flog mich nach Sacramento ins Klinikum, wo ich fast zwei Wochen im Koma lag. Als ich schließlich die Augen öffnete, erinnerte ich mich an nichts, nicht an das Feld, nicht einmal an meinen Namen. Die Menschen, die ich gekannt hatte, die Orte, an denen ich gewesen war, die Dinge, die ich getan hatte – alle verschwunden, als wären sie ohne mich in Urlaub gefahren. Geblieben war lediglich ein zwar vages, aber sicheres Gefühl dafür, wie das Leben funktioniert: Ich wusste zwar nicht, warum, aber ich wusste, dass Menschen Eier zum Frühstück essen und Sandwiches zu Mittag; ich wusste ohne weitere Bestätigung, dass ich einen Brief tippen, ein Auto steuern und einen Tisch mit allem Zubehör korrekt decken konnte; und genauso sicher wusste ich, dass ich weder eine Fremdsprache beherrschte noch Klavier spielen konnte. Meine Fähigkeiten waren mir geblieben, doch die Menschen, Orte und Ereignisse verschwanden. Wochenlang ließ ich meinen Blick durch das Krankenhauszimmer schweifen, über kahle, gebrochen weiße Wände und die hellrosafarbene Vase auf dem Tisch neben meinem Bett und versuchte, mir eine Vorstellung von meinem Leben zu machen – mit einer Mutter, einem Vater, vielleicht auch Brüdern und Schwestern, einem Haus mit großer Veranda und einem Garten, der von gelben Rosen eingefasst war. Doch irgendwann begriff ich mit Entsetzen, dass die Bilder aus einer Zeitschrift stammten, die auf dem Nachttisch lag, oder aus einer Fernsehsendung, die ich mir am Tag zuvor angeschaut hatte. Mir ging auf, dass meine wahren Erinnerungen so weiß und kahl waren wie die Krankenhauswände.
    Die Polizeibeamten versuchten vergeblich, den- oder diejenigen ausfindig zu machen, die mich sterbend auf dem Feld hatten liegen lassen. Sie überprüften landesweit Fingerabdrücke, bemühten sich, meine Eltern zu finden, meine Identität festzustellen, doch niemand meldete Ansprüche auf mich an – kein Angehöriger, kein Freund, überhaupt niemand. Es war, als hätte man mich aus einem Raumschiff abgeworfen, als käme ich von einem anderen Planeten. Ich hatte keine Vergangenheit und auch nicht den Hauch einer Lebensgeschichte. Das war vor
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