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Außer Atem - Panic Snap

Außer Atem - Panic Snap

Titel: Außer Atem - Panic Snap
Autoren: Laura Reese
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fünfzehn Jahren.
    Ich nahm den Namen Carly Tyler an: Carly nach einer Krankenschwester im Klinikum und Tyler nach dem Autor eines Buches, das ich während meiner Genesung gelesen hatte:
Morgans Hinscheiden;
es ging darin um einen Mann, der auch Probleme mit seiner Identität hatte. Der Name erschien mir passend, auch wenn er nicht wirklich meiner war.
    Als ich zwanzig war – ungefähr, mein Alter hatte man ja nicht genau bestimmen können –, als ich zwanzig war, waren die Ärzte bis auf ein paar kleinere Operationen endlich mit mir fertig. Alles in allem konnte ich mich über das Ergebnis nicht beklagen. Ich hatte keine bleibenden körperlichen Schäden zurückbehalten, und meinem Gesicht war absolut nicht anzusehen, dass einmal so viele Knochen darin gebrochen gewesen waren. Lange hinkte ich noch, doch auch das hörte irgendwann auf. Ein paar Narben, schwache weiße Spuren, eigensinnige Zeichen früherer Verletzungen, befinden sich noch an überraschenden Stellen – an der Innenseite meines rechten Oberschenkels, entlang einer Rippe, unter meiner linken Brust. Sie alle sind sichtbare Erinnerungen an das, was mein Gehirn ignoriert, bleibende Hinweise auf eine frühere Zeit, narbige Wegweiser zu einer noch unbekannten Vergangenheit. Die Narben sind inzwischen kaum noch zu sehen; man muss schon sehr genau hinschauen. Und wenn das jemand tut, gebe ich sie als Überbleibsel von kleineren Unfällen in der Kindheit aus: von einem Sturz aus einem Baumhaus, lüge ich, von einem Rollschuh-Unfall. Abgesehen von meinen Erinnerungen bin ich unversehrt.
    Die Ärzte, die so erfolgreich darin waren, meinen Körper zusammenzuflicken, konnten für meinen Geist nichts tun. Sie bestanden darauf, dass ich sie weiterhin aufsuchte – ich war ja ein erstklassiges Studienobjekt –, doch ich hatte die Gespräche bald satt, all die Fachausdrücke, funktionelle retrograde Amnesie, posttraumatische Verwirrungszustände, organischer Gedächtnisdefekt, dissoziative Dämmerzustände, psychogene und hysterische Amnesie. Sie halfen mir nicht, meine Vergangenheit zurückzugewinnen, und mit zwanzig war ich bereit für eine Zukunft, für ein Leben ohne Krankenhäuser und Ärzte und Untersuchungen, für ein Leben jenseits der regelmäßig wiederkehrenden Zeitungsberichte über mich, »das geheimnisvolle Mädchen ohne Vergangenheit«. Ich ging aufs College, ich arbeitete, ich zog von Stadt zu Stadt und wurde schließlich Chefköchin in einem schicken Restaurant in Sacramento. Und für meine Freunde erfand ich Erinnerungen, um die Leere zu füllen. Niemand wusste, dass ich das geheimnisvolle Mädchen gewesen war.
    Doch so perfekt ich meine Vergangenheit auch vor anderen verheimlichte, sie ließ mich nicht los. Was war an jenem Tag geschehen? Und warum hatte mich niemand vermisst? Fünfzehn Jahre lang stellte ich mir täglich diese Fragen und erhielt nie eine Antwort darauf. Ich zog von einer Stadt in die nächste und suchte immer weiter. Die Ärzte hatten mir erklärt, dass die Dinge, die ich vergessen hatte, mein Handeln und mein Verhalten beeinflussen könnten. Also hinterfragte ich jede Wahl und Entscheidung, die ich traf, analysierte sie, suchte nach unbewussten Motiven, die mich in eine bestimmte Richtung gedrängt hatten. Warum hatte ich im Hauptfach Englisch studiert und war dann ohne einen klaren Plan und ohne jede Vorwarnung in die Gastronomie gegangen? Besaßen meine Eltern ein Restaurant? Hatte ich in der Highschool als Kellnerin gejobbt? Warum war es mir so wichtig, in Nordkalifornien zu bleiben? Und was war mit meinen unerklärlichen Abneigungen? Ohne ersichtlichen Grund fühlte ich mich unbehaglich, wenn ich über Backsteinböden ging und Wendeltreppen hinaufstieg; ich fand immer Ausflüchte, um mich nicht mit großen Männern zu treffen; ich geriet in dunklen, engen Räumen in Panik. Fünfzehn Jahre lang suchte ich nach Antworten und forschte in allem, was ich tat, nach Hinweisen. Wenn es mich zu einem speziellen Ort zog, durchkämmte ich alle umliegenden Straßen nach lange vergessenen Orientierungspunkten. Wenn mir jemand auch nur entfernt vertraut vorkam, fragte ich ihn aus, bis ich sicher war, dass wir einander nie zuvor begegnet waren. Alles vergebens. Kein einziges Mal hatte ich ein sicheres Gefühl von Wiedererkennen.
    Bis zum letzten Jahr.
    Ich sitze in einer Imbissstube, doch ich achte nicht auf die Menschen und den Lärm um mich herum. Ich trinke meinen Kaffee aus, diesen lauwarmen und bitteren letzten Schluck in der Tasse,
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