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Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube

Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube

Titel: Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
Autoren: Christopher Ride
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dass endlich die Zeit zum Handeln gekommen war, aber er spürte auch eine Unruhe in sich, wenn er die trauernden Menschen beobachtete, die zu Hunderten mit ihm in dieselbe Richtung strömten.
    Mit seiner dreiviertellangen Moleskinjacke und einem breitkrempigen Hut war er gegen die Nässe gut geschützt. Der gebürstete Baumwollstoff war strapazierfähig und wasserdicht, wenn auch ein bisschen zu warm für den Sommer. In einem Lederranzen auf dem Rücken hatte Wilson seine Reisepapiere, ein dickes Bündel amerikanischer Dollar und eine Hand voll Goldmünzen, die noch von seinem Besuch in China stammten. Die Münzen waren ausgezeichnete Tauschware, weil das Metall weich war und sich durch einen Biss als echt auswies.
    Wilson war einen Kopf größer als die Einheimischen und machte sich keine Illusionen, dass er eventuell nicht auffallen könnte. Er ging einfach ruhig mit der Menge mit, als wäre es vollkommen selbstverständlich. Bei seiner Ankunft mit dem Zug von Lima hatte er beschlossen, sofort zur Kathedrale zu gehen und in Erfahrung zu bringen, wie es zu dem vorzeitigen Tod des Geistlichen gekommen war. Dessen blutiges Ableben war in der Geschichte des Landes, die Wilson gründlich studiert hatte, nicht vermerkt. Es war vielleicht nicht weiter relevant, aber erfahrungsgemäß war es nie gut, wenn der Ablauf der Geschichte gestört wurde.
    Cusco trauerte, und fast jeder trug Schwarz. Als Wilson zu Ohren gekommen war, dass in der berühmten Basilika ein Priester durch über hundert Messerstiche ermordet worden war, war er sofort misstrauisch geworden. Die Gerüchteküche Südamerikas war oft unzuverlässig, und so hoffte er, die Fakten wären andere oder wenigstens stark ausgeschmückt worden.
    Wilson wusste, dass er ein enormes Wissen über die Zukunft besaß und ihm das eine unglaubliche Macht verlieh. Der Hochmut, der daraus erwuchs und auf den er nicht stolz war, war Teil seines Selbstverständnisses geworden. Er war der Aufseher, ein Mann, der die Kraft von zwanzig Männern aufbringen konnte und bei dem sich Wunden tausendmal schneller schlossen als bei gewöhnlichen Menschen.
    Doch hier befand er sich in einer fremden, altertümlichen Welt. Teddy Roosevelt war Präsident der Vereinigten Staaten. Zar Nikolaus II. sah seiner Ermordung durch russische Revolutionäre erst noch entgegen. Und Winston Churchill war ein schlanker, junger Mann, der gerade zum ersten Mal dem britischen Kabinett angehörte. Es hatte noch keinen Weltkrieg gegeben, und das britische Empire war sich des Neides der anderen Nationen sicher. Die Gebrüder Wright waren gerade erstmals in ihrem selbst gebauten Flugzeug geflogen. Der Panamakanal war noch nicht fertiggestellt. Das Fließband musste noch den ersten Ford T produzieren. Es gab keine Telefone, Taschenrechner oder Computer, keine Satelliten, kein Google Maps, keine Elektrizität außer in den Großstädten, sondern lediglich den Telegrafen und eine wöchentlich erscheinende Lokalzeitung. Der handgeschriebene Brief war die verbreitetste Form der Fernkommunikation für eine Weltbevölkerung, die magere anderthalb Milliarden zählte. Das Erfreuliche dabei: Es war eine Welt voller Rätsel und Abenteuer, eine Zeit der Entdeckungen, in der der Tapfere von seinen Anstrengungen profitieren konnte, vorausgesetzt er war bereit, bei einem Abenteuer sein Leben zu riskieren.
    Acht Jahre lebte Wilson nun schon in dieser Welt, schlug die Zeit tot und existierte wie ein Einsiedler. Seine Mission erforderte es, auf genau diesen Tag zu warten, um nach Cusco zurückzukehren und einen bestimmten Mann aufzusuchen. Seit acht Jahren war er von der modernen Welt und den Menschen, die er kannte, getrennt und hielt sich in der Vergangenheit auf, wo es den Aufseher eigentlich gar nicht geben durfte und wo er sein Handeln und Wirken deshalb zu beschränken hatte, um die Zukunft nicht negativ zu beeinflussen.
    Wilson ärgerte sich über die vertane Zeit, doch jetzt war er hier und handelte gemäß den Anweisungen, die er damals erhalten hatte. Erst wenn sein Auftrag ausgeführt war, durfte er nach Hause zurückkehren.
    Mit dem Strom der Trauernden näherte sich Wilson der Kirche El Triunfo, die an der Südseite der Kathedrale stand. Angespannt hörte er das eigenartige Gemurmel unzähliger Menschen vor ihm. Als er um die Ecke der Kirchenmauer bog, konnte er den weiten Platz überblicken. Dort standen die Menschen dicht an dicht, so weit das Auge reichte. Er hielt erstaunt den Atem an. Es waren Tausende, die mit
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