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Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube

Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube

Titel: Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
Autoren: Christopher Ride
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herauszufinden, wo ihre Schwester war. Wenn Vivane tot war, würde Aclla Rache nehmen – so war es Brauch in ihrer heiligen Sippe.
    Während sie mit den Bewegungen der Menge mitging, blendete sie ihre Schmerzen aus und beobachtete aufmerksam die sonderbaren Vorgänge auf dem Platz. Sie nahm alles und jeden in sich auf und gestattete sich keine Traurigkeit – früher oder später würden sie kommen.
    Von der Avenida del Sol aus schritt ein großer weißer Mann zielstrebig durch die Menschenmenge. An seinem Gang konnte sie erkennen, dass er kein Spanier oder Südamerikaner war. Als er näher kam, stellte sie sogar fest, dass sie solch einen Mann noch nie gesehen hatte. Er wusste sich zu bewegen, und das hieß wahrscheinlich, dass er kämpfen konnte. Er war groß und kräftig und seine Haut hell. Seine Gesichtszüge waren gut proportioniert, die Augen blau, und er blickte ebenfalls suchend über den Platz. Aufmerksam beobachtete sie ihn unter der Kapuze hervor und fragte sich, ob dieser geheimnisvolle Mensch, der auf die Kathedrale zustrebte, zu den Entführern gehörte.
    Er war jetzt sehr nah, ging nur ein paar Schritte von ihr entfernt vorbei.
    Sie bemerkte, dass ihn der Zorn der Menschen überraschte.
    Der Mann sah gut aus, das musste Aclla zugeben. Eine Schönheit von seiner Art war ihr neu. Sicher stammte er von einem anderen Kontinent, von welchem, konnte sie nicht sagen. Die Art, wie er über den Platz schaute, verriet, dass er schon einmal hier gewesen war. Er hatte kein kindliches Staunen im Blick, sondern nur ernste Entschlossenheit.
    Wann wird er zu Corsell hinaufblicken?, fragte sie sich. Weiß er nicht, dass ein Unschuldiger gekreuzigt und an die Kirchenmauer gehängt wurde?
    Der Blauäugige begann, die Treppe hinaufzusteigen. Ein Soldat trat ihm eilig entgegen und wollte ihn ärgerlich wegscheuchen. Aclla schob sich zwischen den Leuten durch, um mehr sehen zu können.
    Endlich blickte der Blauäugige zu Corsell hinauf.
    An seinem Gesichtsausdruck erkannte Aclla sofort, dass er an dieser abscheulichen Tat nicht beteiligt gewesen war. Hastig schaute sie rings über den Platz, um sich zu vergewissern, dass ihr nichts Wichtiges entging, wenn sie den Mann mit den leuchtend blauen Augen weiter beobachtete. Als sie sicher war, dass sonst nichts Ungewöhnliches geschah, wandte sie sich wieder ihm zu. Der Fremde war die Treppe bis zum Vorplatz hinaufgestiegen und befragte jetzt den Soldaten. Er schien es gewohnt zu sein, seinen Willen zu bekommen.
    Er ist ein sehr ungewöhnlicher Mann, dachte Aclla wieder.
    Ihr lief ein Schauder über den Rücken, als der Blauäugige sich plötzlich umdrehte und ihren Blick auffing.
    Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen.
    Es blieb ihr nichts anderes übrig, als hastig in die Hocke zu gehen. Auf allen vieren kroch sie durch zahllose Beine hindurch und um schmutzige Füße herum. Obwohl sie von so vielen anderen umgeben war, hatte der Fremde sie sofort entdeckt. Vorsichtig suchte sie sich einen neuen Platz zwischen den Bauern, zog die Kapuze noch mehr zusammen und hob langsam den Kopf auf Blickhöhe. Mit wild klopfendem Herzen spähte sie über den Platz, doch der Fremde war nicht mehr zu sehen. Aclla drehte sich einmal im Kreis und schaute hastig nach allen Seiten.
    Wo ist er?
    Der Blauäugige blieb verschwunden.

4.
    C USCO , P ERU P ARQUE DE LA M ADRE O RTSZEIT : 11.12 U HR 16. J ANUAR 1908
    Die Geschichte verlief nicht korrekt, davon war Wilson überzeugt, als er über das schlüpfrige Kopfsteinpflaster eilte und nach links in eine nasse Seitenstraße einbog. Seit Anfang des 17. Jahrhunderts war in Peru niemand mehr gekreuzigt worden, das wusste er genau, und dennoch hing im Cusco des Jahres 1908 ein nackter Mann an einem Holzkreuz am Glockenturm der größten Kathedrale Südamerikas. Der Mord an Monseñor Pera war ebenfalls nicht dokumentiert, und Wilson bezweifelte, dass die zahlreichen zeitgenössischen Chronisten solch einen Vorfall verschwiegen hätten. Die beiden zusammenhängenden Todesfälle bewiesen, dass der Ablauf der Geschichte gestört war. Sein Auftrag würde nicht so einfach werden wie erwartet, fürchtete Wilson deshalb.
    Sein Puls ging schneller als gewöhnlich, als er in forschem Tempo auf den Parque de la Madre zuging, der nicht weit von der Plaza de Armas entfernt lag. Seit er in Cusco angekommen war, hatte er pochende Kopfschmerzen und fühlte sich leicht erschöpft, was von der raschen Überwindung des Höhenunterschieds kam. An den geringen
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