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Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau
Autoren: Tara Hayland
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Waisenheim abgegeben wurden, dann meist von unverheirateten Mädchen, die sich in Schwierigkeiten gebracht hatten, und oft wurden die Kinder von ihren Müttern einfach auf der Türschwelle abgelegt. Hier lag der Fall ganz eindeutig anders. Schwester Marie fragte sich insgeheim, ob die Mutter Oberin wohl Genaueres wusste; aber selbst wenn, würde sie das keinesfalls ihrer geschwätzigen Schutzbefohlenen anvertrauen.
    Schwester Marie verfolgte mit unverhohlener Neugier, wie der Fahrer wieder ausstieg. Es war ein großer, eleganter Herr von Ende vierzig mit dunklen Haaren, dunklen Augen und einem dunkelblauen Kaschmirmantel, der bestimmt mehr gekostet hatte, als man brauchte, um das gesamte Waisenhaus ein volles Jahr durchzufüttern. Er hatte den Kragen hochgeschlagen, als wollte er sich nicht zu erkennen geben – oder aber ihre Fantasie ging wieder einmal mit ihr durch. Er trat an den Fond des Wagens, öffnete die hintere Tür und beugte sich hinein, als wollte er eine Tasche herausholen. Von ihrem Platz auf den Steinstufen aus konnte Schwester Marie nicht in den Wagen sehen, doch sie meinte das leise Weinen einer Frau zu hören. Aber vielleicht täuschte sie sich auch, und sie hörte nur das Neugeborene weinen, denn gleich darauf richtete sich der Mann mit einem kleinen Bündel in den Händen wieder auf, und prompt steigerte sich das Weinen zu einem ausgewachsenen Brüllen.
    Ohne irgendwelche Anstalten zu machen, das weinende Kind zu beruhigen, überquerte er die Auffahrt und kam auf die Mutter Oberin zu. Seine Miene blieb ausdruckslos, und er sagte kein einziges Wort, woraus Schwester Marie schloss, dass alles Notwendige vorab telefonisch besprochen worden war. Die Mutter Oberin nahm dem Mann das Kind aus den Armen. Das Gesicht des Neugeborenen lag unter der Decke verborgen, und die ältere Nonne schlug behutsam den Stoff zurück. Als sie den ersten Blick auf das Kleine warf, stutzte sie kurz, als wäre etwas nicht ganz richtig, doch im nächsten Moment wurde ihre Miene weich.
    »Möge Gott dich lieben«, murmelte die Mutter Oberin zärtlich. Im nächsten Moment hatte sie sich wieder gefasst, sah zu dem Mann auf und erklärte: »Sie können gewiss sein, dass das Kind als guter Christ erzogen wird.«
    Der Mann nahm das mit einem knappen Nicken zur Kenntnis und kehrte zu seinem Wagen zurück.
    Schwester Marie folgte der älteren Nonne ins Haus. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme, und die Härchen in ihrem Nacken hatten sich aufgestellt. Sie hatte das Baby immer noch nicht angesehen, aber sie spürte, dass etwas mit dem Kind nicht stimmte. Was es auch war, es hatte die sonst so unerschütterliche Mutter Oberin kurz aus der Fassung gebracht. Und das verstörte Schwester Marie mehr als alles andere.

ERSTER TEIL
1946–54
    Kleine Anfänge
    »Aus kleinen Anfängen erwächst oft Mächtiges.«
    JOHN DRYDEN, BRITISCHER POET, 1631–1700

Kapitel 1
    County Cork, Irland, Juli 1946
    »Hör auf! Nicht hier – es könnte uns jemand sehen!«
    Franny wand sich aus den Männerarmen und setzte sich mühsam im hohen Gras auf. Dass sie so schwer und schnell atmete, war allerdings nicht allein auf ihre Angst zurückzuführen, dass sie erwischt werden könnte. Auf den leuchtenden Mädchenwangen brannte die Lust. Aber Franny war fest entschlossen, ihrer Begierde nicht nachzugeben. Vor der Ehe war das eine Todsünde, und auch wenn sie gern von sich geglaubt hätte, dass sie geistig über die Lehren der Kirche hinausgewachsen sei, ließen sich siebzehn Jahre Kirchgang nicht so leicht abstreifen.
    Seelenruhig auf dem Rücken liegend hob Sean seine große, schwielige Hand und strich eine rötliche Locke aus ihrem Gesicht. Das volle Rotbraun würde ihn an das seidige Fell der Sikahirsche erinnern, die über die irischen Wiesen sprangen, erklärte er ihr immer. Er verstand wirklich mit Worten umzugehen, ihr Sean.
    »Ach, jetzt komm schon, Mädchen. Wir tun doch nichts Böses.«
    Er hatte leicht reden. Falls ihre Eltern von ihrem Techtelmechtel erfuhren, würde sie das teuer bezahlen. Mit einem Jungen von einer Farm aus der Nachbarschaft ihre Zeit zu vergeuden wäre schon schlimm genug gewesen, aber Sean war Landarbeiter, ein angeheuerter Tagelöhner, der für ihren Vater das Land bestellte. Für die engstirnigen Spießer in einem kleinen irischen Dorf gab es kaum ein schlimmeres Vergehen.
    Sean schien ihre Ängste zu spüren und schenkte ihr den Hundeblick, den sie in den vergangenen Wochen so oft zu sehen bekommen hatte. »Ich will doch nur
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