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Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau
Autoren: Tara Hayland
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passiert ist …« Sie holte nicht einmal Luft, bevor sie zu einer Schilderung ihres Abenteuers ansetzte. Erst als sie sich allmählich beruhigte, nahm sie das Bild wahr, das sich ihr bot: Die Mutter Oberin war auf den Knien, einen Rosenkranz in der Hand, und mitten im Gebet. »Ach du meine Güte!« Schwester Marie warf die rechte Hand auf ihre Brust. »Ich habe Sie gestört! Das tut mir leid, Ehrenwort. Und das mit dem Abendessen auch.«
    »Hör auf, dich zu entschuldigen, mein Kind«, antwortete die Mutter Oberin leise und ruhig. »Ehrlich gesagt will ich sowieso nichts essen oder trinken. Aber versuche doch, deinen Auftritt in Zukunft etwas weniger dramatisch zu gestalten. Mein altes Herz verträgt die Aufregung nicht mehr so gut.«
    In den rheumatischen Augen zeigte sich ein Anflug von Heiterkeit – die Novizin war im ganzen Orden für ihre theatralischen Auftritte bekannt. Die alte Nonne hielt sich am Schreibtisch ein und richtete sich mit knirschenden Knien auf. Sie verzog unter Schmerzen das Gesicht.
    »Ist alles in Ordnung, Mutter?« Schwester Marie eilte zu ihr und stützte sie am Ellbogen.
    »Nicht der Rede wert.« Sie wedelte abwehrend mit der Hand. »Bei der Kälte macht mir immer mein Rheuma zu schaffen.« Sie ließ sich langsam und mit schmerzverzogenem Gesicht auf den Holzstuhl sinken und nickte zu dem Platz ihr gegenüber hin. »Setz dich, Kind. Wir werden noch lange warten müssen, fürchte ich.«
    Damit senkte die Mutter Oberin den Kopf und versank in kontemplativem Schweigen. Schwester Marie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und klappte ihn dann wieder zu, weil sie wusste, dass sie ihren Rededrang zügeln musste. Auch das fiel ihr ausgesprochen schwer – nur zu sprechen, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatte. Sie plauderte für ihr Leben gern, und diese Zeiten der Stille waren ihr fremd. Die Mutter Oberin hatte es da viel einfacher, dachte sie neidisch. Die ältere Frau strahlte eine tiefe Ruhe aus, eine innere Gelöstheit, die Schwester Marie immer verwehrt bleiben würde, selbst wenn sie noch so viele Jahre hier lebte.
    Im schwachen Kerzenschein studierte sie das weiche, faltige Gesicht der Mutter Oberin, das knittrig wie Krepppapier wirkte. Sie war inzwischen weit über siebzig, aber immer noch voller Tatkraft. Sie sprach praktisch nie über sich selbst, obwohl Gerüchte kursierten, dass sie ein Jahrzehnt in den afrikanischen Missionen zugebracht hatte, dann allerdings vor der Zeit heimgekehrt war, nachdem sie sich eine Krankheit zugezogen hatte, die ihr Herz angegriffen hatte. Trotz ihrer Gebrechlichkeit strahlte sie jedoch eine ungeheure innere Stärke aus.
    Schwester Marie ahnte, dass die Mutter Oberin genau wie die Äbtissin in ihrem letzten Konvent Zweifel hegte, ob es ihr wirklich bestimmt war, den Schleier zu nehmen. Insgeheim zweifelte sie sogar selbst daran. Das Leben als Nonne war schwieriger, als sie sich vorgestellt hatte. Die winzige, nur mit einem Holzbett, einem Schreibtisch und einer Kommode ausgestattete Zelle; das tägliche Aufstehen um halb sechs und das anschließende einstündige Gebet in der Kapelle. Aber obwohl die Mutter Oberin eine Novizin jederzeit heimschicken konnte, hatte Schwester Marie das starke Gefühl, dass es letzten Endes ihr selbst überlassen bleiben würde, ob sie in den Konvent eintrat oder nicht. Die Mutter Oberin gehörte jenem seltenen Menschenschlag an, der sich nie ein Urteil anmaßte, sondern zutiefst an die Worte glaubte: »Wer ohne jede Sünde ist, der werfe den ersten Stein.«
    Schweigend saßen die beiden Frauen beieinander, auch wenn die junge Nonne sich alle Mühe geben musste, nicht zu zappeln, und sich abwechselnd heimlich wünschte, die Besucher würden endlich kommen, damit sie ins Bett gehen konnte, oder sich für diesen Gedanken schämte. Irgendwann war sie offenbar auf ihrem Stuhl eingenickt, doch das Brummen eines Autos, das draußen auf der Straße anhielt, riss sie augenblicklich aus dem Schlaf.
    Schwester Marie sprang auf. »Das müssen sie sein.« Sie konnte ihre Erleichterung nicht verbergen.
    Gleich darauf schlug die Glocke an und bestätigte ihre Vermutung. Erst jetzt erhob sich auch die Mutter Oberin.
    Draußen hatte sich der Unbekannte, der geläutet hatte, schon wieder in seinen warmen Wagen geflüchtet. Es war ein höchst eleganter Wagen, fiel Schwester Marie auf. Ein schlanker schwarzer Lincoln Capri, und obendrein ein 1958er, das neueste Modell. Dass der Wagen so teuer war, überraschte sie. Wenn Neugeborene im
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