Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau
Autoren: Tara Hayland
Vom Netzwerk:
ein kleines Küsschen von dir. Das wirst du einem schwer arbeitenden Mann wie mir ja wohl nicht verwehren, oder?«
    Franny merkte, wie ihre Standhaftigkeit ins Wanken geriet – so wie jedes Mal, wenn Sean Gallagher etwas von ihr wollte. Mit seinem spitzbübischen Grinsen, den schwarzen Haaren und blauen Augen erinnerte er sie an Clark Gable in Vom Winde verweht. Genau wie Rhett Butler war Sean ein Freigeist, der nichts auf gesellschaftliche Konventionen gab. Er war in Limerick aufgewachsen, aber dort war er seit Jahren nicht mehr gewesen. Stattdessen reiste er durch die Welt und zog immer dorthin, wo es gerade Arbeit gab. Als man in England während des Krieges Arbeiter für die Munitionsfabriken gesucht hatte, hatte er zu jenen gehört, die dem Ruf gefolgt waren. Ihre Eltern hielten ihn für einen unsteten Geist, doch Franny konnte es kaum erwarten, ihrer Heimat zu entfliehen und die Welt zu sehen, und fand ihn darum umso interessanter. Bis vor vier Wochen hätte sie sich nicht vorstellen können, dass im verschlafenen Glen Vale jemals etwas so Aufregendes passieren könnte.
    Anfang Juni war Sean aus Cork zu ihnen gekommen, um bei der Obsternte zu helfen. Als Franny ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte er mit nacktem, in der Spätnachmittagssonne glänzendem Oberkörper auf einer Trittleiter gestanden und den Apfelbaum ausgeschnitten. Während ihre Schwester kichernd abseits stehen geblieben war, hatte sich Franny ein Herz gefasst und ihn angesprochen. Natürlich hatte Maggie – diese widerliche Petze – ihrer Mutter später alles erzählt, und Franny hatte den Riemen zu spüren bekommen. Aber das war die Sache wert gewesen, denn dadurch hatte sie Sean auf sich aufmerksam gemacht.
    »Bleib noch fünf Minuten«, bettelte er, hob eine Hand und hielt sie zurück. Dann zog er sie zu sich herab, und sie fing seinen Duft auf. Er roch nach Feldarbeit: ein starker, männlicher Geruch. »Hier ist doch niemand.«
    Franny sah sich um. Natürlich hatte er recht. Die Wiese lag brach und weitab vom Farmhaus. Hier kam nie jemand her. Aber trotzdem …
    »Nein«, widersprach sie und stand auf. »Es ist schon spät, und Mam möchte bestimmt, dass ich ihr beim Kochen helfe. Wenn ich nicht rechtzeitig zurück bin, versohlt sie mir den Allerwertesten.«
    »Das würde ich ihr liebend gern abnehmen.« Sean lachte und versetzte ihr spielerisch einen Schlag auf den Hintern.
    »Autsch!« Scheinbar empört über die allzu intime Geste setzte Franny sich auf. »Sie, Sir, sind kein Gentleman.« Es war ein Zitat aus Vom Winde verweht , und sie bot dazu eine perfekte Imitation von Vivien Leighs Südstaatenslang. Franny war ein Naturtalent, wenn es darum ging, Menschen nachzuahmen, und konnte, schon wenige Minuten nachdem sie jemanden kennengelernt hatte, virtuos dessen Tonfall und Gestik imitieren.
    Sean brauchte ein paar Sekunden, um die Anspielung zu verstehen. »Und Sie, Miss, sind keine Lady«, erwiderte er in einer eher gestelzten Version von Clark Gable.
    Sie lächelten sich kurz an. Sean nahm noch einmal ihre Hand.
    »Wir treffen uns später, ja?«
    Franny zögerte. Sie kam abends nicht so ohne Weiteres aus dem Haus.
    »Ach komm schon, Liebchen«, schalt sie ihr Verehrer. »Sonst muss ich am Ende noch nach Cork fahren und mir dort eine Frau suchen.«
    Er sagte das im Scherz, aber für Franny klang es jedes Mal wie eine Drohung. Denn davor fürchtete sie sich am meisten: dass Sean das Interesse an ihr verlieren könnte, wenn sie sich seinen Wünschen nicht fügte. Wahrscheinlich hatte er in England unzählige gebildete Frauen kennengelernt; wie sollte sie, das kleine Bauernmädchen, da mithalten können?
    Sie bot ihr gesamtes schauspielerisches Talent auf und schaffte es tatsächlich, ihre Angst zu überspielen. Solange sie ihn im Ungewissen ließ, würde er an ihr interessiert bleiben. Diese Taktik hatte sie sich schon vor Wochen zurechtgelegt.
    »Vielleicht treffen wir uns später«, erklärte sie halb von oben herab, »vielleicht aber auch nicht.« Ohne ein weiteres Wort raffte sie die Röcke und rannte so schnell zum Farmhaus zurück, dass ihr rotbraunes Haar wie ein Flammenschweif hinter ihr herflog.
    Noch während Franny durch die Felder lief und die langen Stoppeln an ihren nackten Beinen kratzten, wusste sie, dass sie Ärger bekommen würde. Nicht dass das ungewöhnlich gewesen wäre. Ständig wurde sie ausgeschimpft, meist, weil sie sich vor der Arbeit gedrückt hatte, um im Nachbarort ins Kino zu gehen.
    »Was denkst du dir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher