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Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau
Autoren: Tara Hayland
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über ihre Schwester. Mit ihren zwanzig Jahren war sie eine unansehnliche, mürrische Jungfer, die ihre jüngere Schwester um ihr hübsches Gesicht und ihr fröhliches Wesen beneidete.
    Ihre Mutter sah Franny scharf an. »Hoffentlich ist das nicht wahr, mein Mädchen.«
    Franny sagte nichts, sondern begnügte sich mit einem finsteren Blick auf ihre Schwester, die ihr daraufhin die Zunge herausstreckte. Im Gegensatz zu Franny interessierte sich Maggie ausschließlich dafür, möglichst schnell zu heiraten. Sie war dürr wie ein Skelett, hatte einen schmalen Mund und kalte Augen und die trotzige Miene eines Menschen, der sich vom Leben übervorteilt fühlt. »Das ist so ungerecht«, beklagte sie sich gern. »Wenn ich nur halb so gut aussehen würde wie Franny, wäre ich schon längst verheiratet.« Aber insgeheim glaubte Franny, dass die möglichen Verehrer weniger vom Aussehen ihrer Schwester als von ihren ständigen Nörgeleien abgeschreckt wurden.
    Theresa seufzte müde – wie so oft – und sagte: »Das Abendessen ist gleich fertig, also deckt lieber den Tisch, Mädchen.«
    »Ja, Mam«, antworteten Franny und Maggie im Chor.
    Einander bemüht ignorierend begannen sie, Besteck und Teller zu verteilen. Das Geschirr passte nicht zusammen, und abgesehen vom Nötigsten blieb der Tisch nackt: Blumen und Servietten waren ein Luxus, den sich der Haushalt nicht leisten konnte. Um Punkt sechs Uhr begann Theresa das Essen aufzutragen. Die Männer mussten nicht erst vom Feld gerufen zu werden – die tägliche Routine blieb immer gleich.
    Franny setzte sich auf die eine Seite des Tisches, Maggie nahm ihr gegenüber Platz – damit sie mich besser belauern kann, dachte Franny –, während ihre Mutter am einen Ende saß. Sean kam als Nächster und begrüßte die Frauen freundlich. Franny hatte ihn von Anfang an gewarnt, sich nicht neben sie zu setzen, weil sie Angst hatte, dass sie sich dadurch verraten könnten, darum setzte er sich neben Maggie und zwinkerte Franny dabei zu. Frannys Vater Michael trat als Letzter ein. Sobald er seinen Platz am Kopfende eingenommen hatte, wurde es still. Alle senkten den Kopf zum Tischgebet.
    »Möge der Herr uns wahrhaft dankbar machen«, sagte Theresa so wie jeden Abend, »für das, was wir von ihm empfangen.«
    Damit öffneten alle die Augen und begannen zu essen. Theresa hatte das Fleisch bereits auf die Teller verteilt und dabei sichergestellt, dass die Männer den Löwenanteil bekamen, und jetzt wurden die Schüsseln mit Kartoffeln und Kohl rund um den Tisch weitergereicht. All das geschah mit möglichst wenig Worten. Beim Essen wurde nie geplaudert. Michael Healey war ein schweigsamer Mensch, und da er das Familienoberhaupt war, musste sich der gesamte Haushalt nach ihm richten.
    »Wie geht es mit der Arbeit voran?«, fragte Theresa schließlich.
    Michael zuckte mit den Achseln und gab ein nichtssagendes Brummen von sich. Sean antwortete an seiner Stelle. »Wir müssten bald fertig sein.«
    »Und hast du dich schon entschieden, was du danach machen willst?«
    Alle blickten gespannt auf, als Michael jene Frage stellte, die mindestens einmal pro Woche aufkam. Es war kein Geheimnis, dass er Sean als Erntehelfer behalten wollte, nachdem das Obst abgeerntet war. Die Farm wuchs ihm allmählich über den Kopf, und er hatte keine Söhne, die ihm zur Hand gehen konnten, wie er gerne beklagte. Theresa hatte ihm zwar sechs Kinder geschenkt, allerdings war darunter nur ein einziger Junge gewesen. Patrick war zu einem kräftigen, schneidigen Burschen herangewachsen und hätte die Farm eines Tages übernehmen sollen. Aber genau wie Franny hatte es ihn in die Welt hinausgezogen. Während sein Vater als überzeugter Unionist die Engländer hasste und mit Premierminister Éamon de Valera übereinstimmte, dass sich Irland aus dem Krieg heraushalten sollte, hatte Patrick darin ein großes Abenteuer gesehen. Gleich an seinem achtzehnten Geburtstag war er nach England gefahren, um sich als Freiwilliger zu melden. Nicht einmal ein Jahr später war er an den Stränden der Normandie gefallen. Wenn Michael seither seinen Sohn erwähnte, dann nur, um sich zu beschweren, dass ihm die Engländer seine einzige Hilfe auf der Farm geraubt hätten.
    Auf Patrick, Maggie und Franny waren drei Stillgeburten gefolgt, bis der Arzt Theresa davor gewarnt hatte, noch weitere Kinder bekommen zu wollen. Folglich hatte Michael keinen natürlichen Erben für die Farm. Es war kein Geheimnis, dass er es gern gesehen hätte, wenn
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