Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
1
S ie hatte oft davon geträumt, wie ihre kleine Schwester tot unter dem Eis trieb, aber heute nacht sah sie zum erstenmal, wie Hannah verzweifelt die Finger ins Eis krallte. Sie konnte Hannahs Augen sehen, weit aufgerissen und milchig, sie spürte Hannahs Nägel übers Eis kratzen. Dann wachte sie plötzlich auf. Es war nicht Winter – es war Juli. Unter ihren Händen war kein Eis, bloß zerwühlte Bettlaken. Doch wieder war auf der anderen Seite jemand, der sich mit aller Kraft zu befreien versuchte.
    Sie biß sich auf die Unterlippe, als die Faust in ihrem Bauch sich noch fester zusammenballte. Den Schmerz niederkämpfend, der in Wellen kam und ging, lief sie auf Zehenspitzen hinaus in die Nacht.
    Als sie in den Stall trat, miaute die Katze. Sie keuchte jetzt, und ihre Beine zitterten wie Weidenzweige. In der hintersten Ecke des Verschlags, in dem die Kühe kalbten, ließ sie sich ins Heu nieder und zog die Knie an. Die Kühe mit den dicken, prallen Bäuchen drehten ihre großen, erstaunten Augen in ihre Richtung, wandten sich dann schnell wieder ab, als wüßten sie, daß es klüger war, nicht hinzuschauen.
    Sie konzentrierte sich auf das Fell der Holsteinkühe, bis die schwarzen Flecken tanzten und verschwammen. Sie grub die Zähne in den aufgerollten Saum ihres Nachthemdes. Sie spürte einen ungeheuren Druck, als würde sie von innen nach außen gekehrt, und sie erinnerte sich, wie sie und Hannah sich immer durch das Loch im Stacheldrahtzaun am Bach zwängten, schiebend und windend, nur noch Knie und Ächzen und Ellbogen, bis sie hindurchpurzelten.
    Es war so plötzlich vorüber, wie es begonnen hatte. Und auf dem blutbefleckten Heu zwischen ihren Beinen lag ein Baby.
    Aaron Fisher rollte sich unter dem bunten Quilt auf die Seite und blickte auf die Uhr neben dem Bett. Nichts hatte ihn aufgeweckt, kein bestimmtes Geräusch, aber nach fünfundvierzig Jahren als Farmer konnten ihn Kleinigkeiten aus dem Schlaf reißen: ein Huschen im Mais, eine Veränderung im Rauschen des Windes, das Kratzen der Zunge eines Muttertieres, das ein neugeborenes Kalb sauberleckt.
    Er spürte, wie die Matratze nachgab, als Sarah sich hinter ihm aufstützte, ihr langer Zopf ringelte sich über ihre Schulter wie ein Seemannsseil. »Was iss letz?« Was ist los?
    Es waren nicht die Tiere; erst in einem Monat sollte die erste Kuh kalben. Es war kein Einbrecher; dazu war das Geräusch zu zart. Er spürte, wie der Arm seiner Frau sich um ihn schlang. »Nix« , murmelte er. Aber er wußte nicht, ob er Sarah beruhigen wollte oder sich selbst.
    Sie wußte, wie man die Schnur durchschnitt, die wie eine purpurne Spirale zum Bauch des Babys lief. Mit zitternden Händen nahm sie die alte Schere, die an einem Haken neben der Tür des Verschlages hing. Sie war rostig, und Heu klebte daran. Zwei feste Schnitte durchtrennten die Schnur, und sofort schoß Blut daraus hervor. Entsetzt drückte sie die Enden mit den Fingern zu, suchte verzweifelt nach irgend etwas zum Abbinden. Sie wühlte im Stroh herum und fand ein kleines Stück Heukordel, das sie rasch um die Nabelschnur wickelte. Die Blutung ließ nach, hörte schließlich auf. Erleichtert sank sie nach hinten – und dann fing das Neugeborene an zu schreien.
    Sie nahm das Baby und wiegte es in ihren Armen. Mit einem Fuß schob sie Stroh zusammen, um das Blut mit einer sauberen Lage zu bedecken. Der Mund des Babys öffnete und schloß sich um den Baumwollstoff ihres Nachthemdes, saugend.
    Sie wußte, was das Baby wollte, brauchte, aber sie konnte es nicht tun. Es würde alles real machen.
    Also gab sie dem Baby statt dessen ihren kleinen Finger. Sie ließ den winzigen, kräftigen Mund saugen, während sie tat, was man ihr für extreme Streßsituationen beigebracht hatte; was sie jetzt schon seit Monaten tat. Sie betete: »O Herr, bitte mach, daß es weggeht.«
    Das Klirren von Ketten weckte sie. Es war noch dunkel draußen, aber die Milchkühe folgten ihrer inneren Uhr und erhoben sich in ihren Verschlägen, die Euter blau geädert und prall voll Milch, wie ein zwischen ihren Beinen gefangener Vollmond. Sie hatte Schmerzen und war müde, doch sie wußte, daß sie den Stall verlassen mußte, bevor die Männer zum Melken kamen. Als sie nach unten blickte, begriff sie, daß ein Wunder geschehen war: Das blutgetränkte Stroh war wieder frisch, bis auf einen kleinen Fleck unter ihrem Gesäß. Und die beiden Dinge, die sie beim Einschlafen in den Händen gehalten hatte – die Schere und das Neugeborene
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher