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Die verborgenen Bande des Herzens

Die verborgenen Bande des Herzens

Titel: Die verborgenen Bande des Herzens
Autoren: Catherine Deveney
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auf die Unterlippe, die spröde ist nach der stundenlangen Warterei in der trockenen, überhitzten Krankenhausluft. »Es besteht die Gefahr, dass ein zweiter schwererer Schlaganfall folgt, vor allem in den nächsten achtundvierzig Stunden.«
    Stevie hält sich in sicherem Abstand von dem Bett entfernt und vermeidet es auch, Lily direkt anzusehen; als wäre er nur ein Passant, den das alles hier nichts angeht. Doch ich sehe die Angst in seinem Gesicht. Ich bemühe mich, ein ermunterndes Lächeln zustande zu bringen, doch er reagiert nicht.
    »Steve, nimm doch endlich deinen Kaugummi raus, ja?«, sagt Alex in scharfem Ton. Seine Stimme verrät seine Gereiztheit. Nie nimmt er es wahr, wenn Stevie Angst hat.
    Stevie reckt trotzig das Kinn. Er wirft seinem Vater einen feindseligen Blick zu.
    »Warum?«
    »Es zeugt nicht gerade von Respekt, findest du nicht? Kaugummi zu kauen am Bett deiner Großmutter, wenn sie in einem solchen Zustand ist.«
    »Das ist schon okay …«, beeile ich mich zu sagen, aber keiner von den beiden beachtet mich.
    »Was?«, erwidert Stevie ungläubig. »Welchen Unterschied soll das machen? Sie wird es ja wohl kaum mitkriegen, oder?«
    Seine dunkelbraunen Augen sind vor Wut verschleiert. Manchmal sieht er aus, als würde er Alex hassen.
    »Und überhaupt, wieso soll es ein Zeichen von mangelndem Respekt sein …« Er spricht das Wort so aus, dass man regelrecht die Gänsefüßchen hört. » … wenn jemand Kaugummi kaut?«
    »Steve, es reicht«, erwidert Alex mit einer Ruhe, die, wie ich aus Erfahrung weiß, trügerisch ist.
    »Alex, dort sind Stühle, wenn ihr …«, setze ich an.
    »Ich würde dir empfehlen, erst mal dein Gehirn zurate zu ziehen, ehe du deine große Klappe aufreißt«, fährt Alex fort, und Steve schnalzt spöttisch mit der Zunge und bedenkt ihn mit einem Blick tiefer Verachtung. Keiner von den beiden hat wahrgenommen, dass ich etwas gesagt habe.
    »Ach, rutscht mir doch den Buckel runter«, murmle ich und lasse kurz den Kopf auf Lilys Bett sinken.
    Diesen Satz hört Alex natürlich. Er schaut mich herausfordernd an, als wäre er gerade mitten in einem Streit mit mir, und nicht mit Stevie, als hätte ich etwas verbrochen. Dann hebt er die Hände in einer Geste verärgerter Resignation. »Carol Ann«, sagt er. »Kein Wunder, dass das Kind sich so übel aufführt.«
    »Ich bin kein Kind«, protestiert Stevie leise.
    »Alex«, erwidere ich mit vor Unsicherheit zittriger Stimme, während ich ihm in die Augen blicke und ihre Augen vor mir sehe – den Schwung ihrer langen schwarzen Wimpern, wie Spinnenbeine. Dann spüre ich, wie die vertraute Wut wieder in mir aufflammt, die ich immer empfinde, wenn ich mir die beiden zusammen vorstelle, und meine Stimme gewinnt an Festigkeit. »Alex, meine Mutter hat gerade einen Schlaganfall gehabt.«
    »Das ist mir bekannt, Carol Ann«, erwidert er. Ich hasse es, dass er meinen Vornamen nur benützt, um zu betonen, wie verärgert er ist. »Wir alle wissen es. Deshalb sind wir ja schließlich hier, oder?«
    Ja, sie sind hier. »Carol Ann«, höre ich in meinem Kopf eine Stimme aus der Vergangenheit. » Carol Ann .« Ich halte seinem Blick stand. Weiß er, was ich gerade denke?
    »Ich kann nicht lange bleiben«, verkündet Alex. Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich habe in einer halben Stunde einen Termin mit Dave Bannerman.« Alex mag Lily nicht. Sie mag zwar Alkoholikerin sein, doch sie durchschaut ihn. Eigentlich sollte mich das nicht verwundern; schließlich ist sie eine wahre Meisterin, was die Kunst des Täuschens angeht.
    »Ich bleibe noch«, sagt Stevie, damit er nicht zusammen mit Alex in dessen Wagen zurückfahren muss. Er rückt einen Stuhl an die Wand gegenüber Lilys Bett und lässt sich, die langen, schlaksigen Beine ausgestreckt, darauf nieder.
    »Es tut mir leid«, sagt Alex. »Ich würde gerne noch bleiben, wenn ich könnte. Ich bin nur auf einen Sprung … weißt du … aber ich komme wieder …«
    Ich schüttle den Kopf. »Das ist schon okay. Geh nur.« Ich höre mich an wie Lily.
    Alex zögert. »Gut«, sagt er. »Versuche, dir nicht allzu viele Sorgen zu machen. Ich hoffe, es sieht schon etwas besser aus, wenn ich das nächste Mal wiederkomme.« Im Hinausgehen tätschelt er meine Schulter, eine kleine Geste des Trosts. Er kann sich nicht mehr dazu durchringen, mich zu umarmen. Insgeheim bin ich froh darüber. Wenn er mich an sich drücken würde, würde das nur unsere Distanz betonen. Wenn er mich in den Arm nimmt,
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