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Die verborgenen Bande des Herzens

Die verborgenen Bande des Herzens

Titel: Die verborgenen Bande des Herzens
Autoren: Catherine Deveney
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mitten auf meine winzige Nase unter der großen Hutkrempe drückte.
    Lily war dunkelhaarig damals, trug ihre Locken aus dem Gesicht gekämmt, sodass die wunderschönen, fein gezeichneten Backenknochen zur Geltung kamen. Und während die Mütter meiner Schulfreundinnen übergewichtig und bieder waren und nach Chlorbleiche rochen, freute ich mich, so eine glamouröse Mutter zu haben, die ihre Wespentaille mit Tellerröcken betonte und ihre schmalen Hüften mit knallengen Hosen und schwarzen Etuikleidern à la Jacqueline Kennedy zur Geltung brachte. Damals war sie knabenhaft schlank, aber nicht mager und ausgezehrt, und für mich war sie die schönste Frau der Welt. Meine Mutter.
    Manchmal droht meine Liebe zu ihr mich zu überwältigen, ja, aufzufressen, doch dann rührt sich fast augenblicklich wieder mein Groll, den ich empfinde, weil ich für sie verantwortlich bin, und stutzt diese Liebe wieder zurecht. Ich habe für meine Mutter gesorgt in einer Zeit, in der sie sich um mich hätte kümmern müssen. Jetzt, wo sie alt ist, steht es ihr eigentlich zu, dass man sich um sie kümmert, dennoch habe ich das Gefühl, dass ich nun endlich an der Reihe wäre. Mein ganzes Leben lang war sie, Lily, an der Reihe gewesen.
    Während ich hier an ihrem Bett sitze, steigt mir plötzlich ein Schwall Krankenhausluft in die Nase, dieser widerliche Geruch nach Desinfektionsmittel und Verfall. Ich hasse Krankenhäuser. Ein paar Stunden vorher, als ich aufgelöst auf der Suche nach Lilys Station durch die Krankenhauskorridore irrte, war ich an der Entbindungsstation vorbeigekommen, und die schreienden Neugeborenen lösten eine Sturzflut der Erinnerungen in mir aus. Ein Paar kam mir durch die Schwingtür entgegen, Freude und Elternglück standen den beiden ins Gesicht geschrieben. Sie trugen ihr Baby aus der Klinik nach Hause und hatten es so warm eingepackt, dass es kaum zu sehen war, eine winzige Nuss in einer übergroßen Schale. Ich versuchte zu lächeln, als ich ihnen die Tür aufhielt, aber sie gingen hindurch und würdigten mich kaum eines Blickes. Doch meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich ohnehin nur auf die rosa Decke, in die das Kind eingewickelt war, sie stach mir förmlich in die Augen. Helles Rosa, Babyrosa, die Farbe von verwaschenen, verregneten Heckenrosenblüten, zart und fein und doch Schutz bietend wie die Schale von einem Vogelei.
    Durch das Glasfenster, das auf den Korridor hinausgeht, sehe ich, wie zwei Personen auf Lilys Zimmer zusteuern. Alex und Stevie. Stevie wird nächste Woche sechzehn. Sein Gang ist gehemmt, er zieht die Schultern ein, um sich vor der Welt abzuschotten, hält den Kopf geneigt, und seine Augen blicken hinter dichten schwarzen Wimpern hervor auf seine Umgebung. Er bleibt mehrere Schritte hinter Alex, als gehörten die beiden nicht wirklich zusammen. Alex, in seinem Geschäftsanzug mit Krawatte und gestärktem weißem Hemd, geht schnellen Schrittes, als käme er zu spät zu einer Konferenz. Er sieht zehn Jahre jünger aus, als er tatsächlich ist, wohingegen ich fünf Jahre älter wirke. Er wird jünger. Ich werde älter, und bisweilen kommt mir der Gedanke, irgendwann in nächster Zeit werde ich aussehen wie seine Mutter. Ich beobachte das Auf und Ab seines Kopfes, während er an dem Fenster vorbei auf die Tür zugeht. Eine junge Krankenschwester kommt ihm entgegen und dreht sich nach ihm um. Er hat sie immer noch, diese gewisse Ausstrahlung.
    Manchmal gelingt es mir, das, was ich für Alex empfinde, zu einer Art Leere zu reduzieren. Doch meistens fühle ich nur Wut, eine Wut, die ich permanent unterdrücke und über die zu reden es nun zu spät ist. Wir haben den Zeitpunkt verpasst. Ich kann Alex nicht ansehen, ohne dass sich ihr Gesicht dazwischenschiebt. Dieses Gesicht, das mich heimsucht und quält mit seiner porzellanartigen Schönheit, dem intensiven Blick aus diesen klaren Augen. Sie steht immer zwischen uns, ist stets gegenwärtig wie ein stummer Geist. Eine Hand auf meiner Schulter. Die andere auf der seinen.
    »Wie geht es ihr?«, fragt Alex, kaum dass er zur Tür hereingekommen ist. Er blickt zum Bett, und sein Gesichtsausdruck verändert sich nicht.
    »Es wechselt. Mal ist sie wach, dann ist sie wieder ohne Bewusstsein. Die Ärzte meinen, es ist ein relativ leichter Schlaganfall gewesen, aber sie ist noch ganz benommen, und ihre linke Körperhälfte ist vorübergehend gelähmt. Es ist noch zu früh, um abzuschätzen, ob sie bleibende Schäden davongetragen hat.« Ich beiße mich
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