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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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aufreizend in die Nase gestiegen -, entschied ich, daß es keinen Grund gab, weshalb ich mich nicht selbst bedienen sollte. Ich hatte mir schon einen Teller genommen und mich gerade gebückt, um im unteren Bereich des Wagens nach Besteck zu suchen, als mir bewußt wurde, daß hinter mir eine ganze Reihe von Gestalten stand. Ich drehte mich um und sah mich den Hoteldienern gegenüber.
    Soweit ich feststellen konnte, waren alle zwölf, die ich zuletzt um Gustavs Krankenlager herum versammelt gesehen hatte, jetzt auch hier vor mir. Als ich mich umgedreht hatte, senkten einige den Blick, doch ein paar schauten mich weiter durchdringend an.
    »Meine Güte«, sagte ich und tat mein Bestes, um sie nicht merken zu lassen, daß ich mich gerade beim Frühstück hatte bedienen wollen. »Meine Güte, was ist denn passiert? Ich hatte selbstverständlich die Absicht, zurückzukommen und mich nach Gustavs Befinden zu erkundigen. Ich habe angenommen, daß man ihn inzwischen ins Krankenhaus gebracht hat. Mit anderen Worten, ich habe angenommen, daß er jetzt in guten Händen ist. Ganz bestimmt wollte ich zurückkommen, sobald...« Ich schwieg, als ich den kummervollen Ausdruck auf ihren Gesichtern sah.
    Der bärtige Hoteldiener trat vor und räusperte sich verlegen. »Er ist vor einer halben Stunde gestorben, Mr. Ryder. Er hat im Laufe der Jahre immer wieder einmal Probleme gehabt, aber eigentlich ging es ihm ganz gut, so daß es für uns alle völlig überraschend gekommen ist. Wirklich völlig überraschend.«
    »Das tut mir sehr leid.« Ich stellte fest, daß ich angesichts dieser Nachricht wirklich großen Kummer empfand. »Wirklich. Und ich bin Ihnen dankbar, Ihnen allen, daß Sie gekommen sind, um es mir zu erzählen. Wie Sie ja wissen, kannte ich ihn erst seit ein paar Tagen, aber er ist sehr freundlich zu mir gewesen, hat mir bei meinen Koffern geholfen und so weiter.«
    Ich sah, daß die Hoteldiener alle ihren bärtigen Kollegen ansahen und ihn anstachelten, noch etwas zu sagen. Der bärtige Hoteldiener holte tief Luft.
    »Also, Mr. Ryder«, sagte er, »natürlich sind wir hergekommen, weil wir wußten, daß Sie die Nachricht so schnell wie möglich hören wollten. Aber auch« – er senkte plötzlich den Blick -, »aber auch, verstehen Sie, Mr. Ryder, weil Gustav, bevor er gestorben ist, es noch unbedingt wissen wollte. Er wollte unbedingt wissen, ob Sie schon Ihre kleine Rede gehalten haben. Das heißt, die kleine Rede, die Sie in unserem Namen halten wollten, Mr. Ryder. Noch kurz vor dem Ende wollte er das unbedingt wissen.«
    Inzwischen hatten alle Hoteldiener den Blick gesenkt und warteten schweigend auf meine Antwort.
    »Ach so«, sagte ich. »Also wissen Sie noch gar nichts von dem, was sich im Konzertsaal zugetragen hat.«
    »Wir sind alle bis gerade eben bei Gustav gewesen, Mr. Ryder«, sagte der bärtige Hoteldiener. »Er ist gerade eben erst weggebracht worden. Sie dürfen uns das nicht übelnehmen, Mr. Ryder. Es ist sehr unhöflich von uns gewesen, während Ihrer Rede einfach nicht anwesend zu sein, vor allem natürlich, wenn Sie so freundlich gewesen sind, sich an das kleine Versprechen zu erinnern, das Sie uns gegeben haben, und...«
    »Sehen Sie«, unterbrach ich leise, »vieles ist nicht so gelaufen wie geplant. Es überrascht mich, daß Sie noch nichts davon gehört haben, aber dann, unter den Umständen, wie Sie ja sagen, dann nehme ich an...« Ich schwieg, dann holte ich Luft und sagte mit fester Stimme: »Es tut mir leid, aber Tatsache ist, daß vieles, und nicht nur die kleine Rede, die ich in Ihrem Namen vorbereitet hatte, nicht so gelaufen ist wie geplant.«
    »Sie sagen also, Mr. Ryder...« Die Stimme des bärtigen Hoteldieners verlor sich, dann ließ er enttäuscht den Kopf hängen. Die anderen Hoteldiener, die mich alle angestarrt hatten, senkten einer nach dem anderen wieder den Blick. Dann platzte einer von ihnen, der in der Gruppe recht weit hinten stand, beinahe ärgerlich heraus:
    »Gustav hat die ganze Zeit danach gefragt. Bis zum Ende hat er immer wieder danach gefragt. ›Schon irgendwelche Nachricht von Mr. Ryder?‹ Andauernd hat er das gefragt.«
    Etliche seiner Kollegen beruhigten ihn schnell wieder, und es folgte ein lang anhaltendes Schweigen. Schließlich sagte der bärtige Hoteldiener, der immer noch auf den Boden hinunterschaute:
    »Das ist jetzt auch egal. Wir werden uns einfach immer weiter anstrengen, trotz allem. Im Grunde werden wir uns sogar noch mehr anstrengen als vorher.
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