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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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gedankenverloren ins Innere. Er schreckte hoch, als ich auf ihn zuging. Dann nahm er meine Koffer auf und folgte mir schnell in den Aufzug.

    Während wir hochfuhren, behielt der ältliche Hoteldiener beide Koffer in der Hand, und ich sah, daß er vor Anstrengung ganz rot wurde. Die Koffer waren beide sehr schwer, und da ich mir ernstliche Sorgen machte, er könne hier vor mir zusammenbrechen, sagte ich:
    »Es wäre doch wohl besser, Sie würden die Koffer abstellen.«
    »Ich bin froh, daß Sie das sagen«, erwiderte er, und seine Stimme verriet erstaunlich wenig von der Anstrengung, die ihn das Ganze kostete. »Als ich in diesem Beruf anfing, das ist jetzt schon viele, viele Jahre her, habe ich die Gepäckstücke immer auf dem Boden abgestellt. Sie nur hochgehoben, wenn unbedingt nötig. Wenn ich in Bewegung war, sozusagen. Ja, ich muß sagen, daß ich während meiner ganzen ersten fünfzehn Jahre hier so gearbeitet habe. Viele junge Hoteldiener in der Stadt gehen immer noch nach dieser Methode vor. Aber mich werden Sie so etwas ganz bestimmt nicht mehr tun sehen. Wir sind übrigens gleich da.«
    Schweigend fuhren wir weiter hoch. Dann sagte ich:
    »Sie arbeiten also schon eine ganze Weile in diesem Hotel.«
    »Siebenundzwanzig Jahre. In der Zeit habe ich einiges gesehen. Aber natürlich gab es das Hotel schon lange, bevor ich hier anfing. Im 18. Jahrhundert soll Friedrich der Große hier eine Nacht verbracht haben, und nach allem, was man so hört, war es schon damals ein Haus mit Tradition. Tja, im Lauf der Jahre haben sich hier Ereignisse von großer historischer Bedeutung zugetragen. Wenn Sie sich erst einmal ausgeruht haben, würde ich Ihnen irgendwann gerne ein paar von den Geschichten erzählen.«
    »Aber Sie wollten mir gerade erklären«, sagte ich, »warum Sie es für falsch halten, das Gepäck auf dem Boden abzustellen.«
    »Ach ja«, erwiderte der Hoteldiener. »Das ist wirklich ganz interessant. Sie können sich sicher denken, daß es in einer Stadt wie dieser etliche Hotels gibt. Das heißt, daß sich viele Leute in der Stadt irgendwann schon einmal als Hoteldiener versucht haben. Viele hier glauben offensichtlich, sie bräuchten sich bloß eine Uniform anzuziehen, und das wär’s dann schon, dann könnten sie diese Arbeit machen. Das ist ein Irrtum, dem man in dieser Stadt besonders leicht verfällt. Eine Art allgemein verbreiteter Trugschluß, wenn Sie so wollen. Und ich will gerne zugeben, daß ich eine Zeitlang selber so gearbeitet habe, ohne groß darüber nachzudenken. Aber dann haben meine Frau und ich – ach, das ist jetzt schon etliche Jahre her – einmal einen kleinen Urlaub gemacht. Wir sind in die Schweiz gefahren, nach Luzern. Meine Frau ist inzwischen verstorben, aber immer wenn ich an sie denke, fällt mir dieser kleine Urlaub ein. Dort am See ist es wirklich sehr schön. Aber das wissen Sie sicher. Nach dem Frühstück haben wir immer herrliche Bootsfahrten gemacht. Aber um nun auf die bewußte Angelegenheit zurückzukommen – in diesem Urlaub ist mir aufgefallen, daß die Leute dort ihren Hoteldienern gegenüber eine andere Einstellung haben als die Leute hier. Wie soll ich das erklären? Dort hat man vor Hoteldienern einen viel größeren Respekt. Die besten unter ihnen genießen beträchtliches Ansehen, und die führenden Hotels wetteifern um ihre Dienste. Das hat mir wirklich die Augen geöffnet. Aber hier bei uns, na ja, da haben die Leute eben eine ganz bestimmte Meinung. Es gab Tage, da habe ich mich gefragt, ob sich so eine Meinung je ausrotten läßt. Ich sage ja nicht, daß sich die Leute uns gegenüber irgendwie schlecht benehmen. Im Gegenteil, ich bin hier immer sehr höflich und rücksichtsvoll behandelt worden. Aber wissen Sie, die Leute meinen eben immer, daß jeder diese Arbeit machen kann, wenn er nur will, wenn er es sich nur in den Kopf gesetzt hat. Das liegt wohl daran, daß jeder hier in der Stadt schon einmal die Erfahrung gemacht hat, wie es ist, einen Koffer von einem Ort zum anderen zu tragen. Und deshalb glauben sie, Hoteldiener zu sein ist im Prinzip nichts anderes. Im Lauf der Jahre hatte ich hier in diesem Aufzug Leute, die haben zu mir gesagt: ›Eines Tages gebe ich vielleicht meinen Beruf auf und fange als Hoteldiener an.‹ Ja, tatsächlich. Na, also, eines Tages – gar nicht lange nach unserem Urlaub in der Schweiz – sagt mir doch fast genau denselben Satz einer unserer prominenten Stadträte. ›Eines Tages würde ich das gerne selber mal
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