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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Haltestelle, die im Begriff waren, in eine Straßenbahn einzusteigen, und Sophie und Boris hatten sich ebenfalls dort angestellt. Ich fing wieder an zu laufen, doch die Bahn war anscheinend weiter weg gewesen, als ich gedacht hatte, denn obwohl ich das schnelle Tempo beibehielt, erreichte ich die Haltestelle erst, als alle Fahrgäste schon eingestiegen waren und die Straßenbahn sich gerade in Bewegung setzen wollte. Nur indem ich wie wild winkte, gelang es mir, den Fahrer zum Halten zu bringen und mich mühselig hineinzuhieven.
    Die Straßenbahn schlingerte vorwärts, während ich den Mittelgang entlangtaumelte. Ich war völlig außer Atem, und so nahm ich nur sehr undeutlich wahr, daß der Wagen halbvoll war, und erst als ich mich auf einen Sitz recht weit hinten fallen ließ, wurde mir bewußt, daß ich an Sophie und Boris vorbeigegangen sein mußte. Immer noch keuchend, beugte ich mich zur Seite und schaute den Gang entlang nach vorn.
    Der Straßenbahnwagen war durch einen Ausgang in der Mitte in zwei deutlich voneinander getrennte Hälften unterteilt. Im vorderen Abschnitt befanden sich einander gegenüber an der Längsseite der Bahn zwei lange Sitzreihen, und ich sah, daß Sophie und Boris nebeneinander auf der sonnigen Seite der Bahn ganz in der Nähe der Fahrerkabine saßen. Meine Sicht auf sie war etwas verdeckt von einigen Fahrgästen, die im Bereich des Ausgangs standen und sich an Haltegriffen festhielten, und ich lehnte mich noch weiter in den Gang vor. Während ich das tat, schlug sich der Mann mir gegenüber – in unserer Hälfte des Straßenbahnwagens gab es viele kleine, einander zugekehrte Sitzreihen – auf die Schenkel und sagte:
    »Sieht aus, als würde es wieder ein schöner sonniger Tag werden.«
    Mit seinem kurzen Reißverschlußblouson war er ordentlich, wenn auch bescheiden gekleidet, er war wohl eine Art Handwerker – ein Elektriker vielleicht. Ich lächelte ihm kurz zu, woraufhin er mir von einem Gebäude zu erzählen begann, in dem er und seine Kollegen seit einigen Tagen arbeiteten. Ich hörte ihm mit halbem Ohr zu und lächelte gelegentlich oder gab einen zustimmenden Laut von mir. Währenddessen wurde meine Sicht auf Sophie und Boris immer weiter blockiert, denn immer mehr Fahrgäste standen auf und drängten zu den Ausstiegstüren.
    Dann hielt die Bahn, die Leute stiegen aus, und meine Sicht wurde besser. Boris, der so selbstbeherrscht aussah wie immer, hatte Sophie eine Hand auf die Schulter gelegt und schaute die anderen Fahrgäste mißtrauisch an, als ob sie eine Gefahr für seine Mutter darstellten. Sophies Gesichtsausdruck konnte ich immer noch nicht erkennen. Ich sah jedoch, daß sie alle paar Sekunden eine gereizte winkende Handbewegung in der Luft machte, die vielleicht einem Insekt galt, das um sie herumflog.
    Ich wollte mich gerade noch besser zurechtsetzen, als mir bewußt wurde, daß der Elektriker irgendwie auf das Thema Eltern zu sprechen gekommen war. Seine Eltern seien jetzt beide in den Achtzigern, erzählte er mir, und obwohl er sein möglichstes tue, um sie einmal am Tag zu besuchen, werde dies aufgrund seiner gegenwärtigen Tätigkeit immer schwieriger. Da kam mir plötzlich ein Gedanke, und ich unterbrach ihn und sagte:
    »Entschuldigen Sie, aber da wir gerade von Eltern sprechen, es scheint, meine Eltern sind vor einigen Jahren hier in der Stadt gewesen. Nur als Touristen, wissen Sie. Das muß jetzt doch schon einige Jahre her sein. Es ist nur so: Diejenige, die mir davon erzählt hat, ist damals noch ein Kind gewesen und kann sich nicht mehr genau an sie erinnern. Also habe ich gedacht, da wir doch gerade über Eltern sprechen, und na ja, ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich nehme an, Sie haben die Fünfzig schon vor einiger Zeit überschritten, also habe ich gedacht, Sie könnten sich womöglich noch an ihren Besuch erinnern.«
    »Das ist gut möglich«, erwiderte der Elektriker. »Aber Sie müssen sie mir schon ein bißchen genauer beschreiben.«
    »Tja, also meine Mutter ist recht groß. Dunkles, schulterlanges Haar. Eine leicht vogelige Nase. Das gibt ihr ein etwas strenges Aussehen, auch wenn sie gar nicht streng sein will.«
    Der Elektriker dachte einen Augenblick nach und schaute dann auf die draußen vorbeiziehende Stadt hinaus. »Ja«, sagte er und nickte. »Ja, ich glaube, ich kann mich an genau so eine Dame erinnern. Sie ist nur ein paar Tage hier gewesen. Hat sich die Sehenswürdigkeiten angesehen, irgend so etwas.«
    »Ja, genau. Dann
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