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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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schließlich zu ihr. »Das alles tut mir so leid. Ich habe das mit deinem Vater gerade eben erst gehört. Natürlich bin ich euch hinterhergekommen, sobald ich gehört hatte...«
    Plötzlich ließ mich etwas in ihrem Gesichtsausdruck innehalten. Noch einen Moment lang schaute Sophie mich weiterhin kühl an. Dann sagte sie müde:
    »Geh weg von uns. Du hast immer nur an der Außenseite unserer Liebe gestanden. Und jetzt sieh dich doch an. Auch nur an der Außenseite unseres Kummers. Geh weg. Geh doch einfach weg von uns.«
    Boris machte sich von ihr los, drehte sich um und sah mich an. Dann sagte er zu seiner Mutter: »Nein, nein. Wir müssen zusammenbleiben.«
    Sophie schüttelte den Kopf. »Nein, es hat keinen Zweck. Laß ihn, Boris. Laß ihn um die Welt reisen und sein Können und seine Weisheit unter die Leute bringen. Er braucht das. Wir wollen ihn jetzt diesem Leben überlassen.«
    Boris sah mich verwirrt an, dann schaute er zu seiner Mutter zurück. Womöglich wollte er gerade noch etwas sagen, doch da stand Sophie auf.
    »Komm jetzt, Boris. Wir müssen hier aussteigen. Boris, komm jetzt bitte.«
    Tatsächlich wurde die Straßenbahn langsamer, und auch andere Fahrgäste standen auf. Ein paar Leute gingen eilig an mir vorbei, dann drängten sich auch Sophie und Boris durch. Ich hielt mich immer noch an meiner Haltestange fest und sah Boris nach, der auf den Ausgang zuging. Genau in dem Moment sah er sich zu mir um, und ich hörte ihn sagen:
    »Aber wir müssen doch zusammenbleiben. Das müssen wir einfach.«
    Dann tauchte Sophies Gesicht hinter ihm auf, mit einer merkwürdigen Gleichgültigkeit sah sie mich an, und ich hörte ihre Stimme sagen:
    »Er wird nie einer von uns sein. Das mußt du einfach begreifen, Boris. Er wird dich nie so lieben wie ein richtiger Vater.«
    Noch mehr Leute hasteten an mir vorbei. Ich hob die Hand in die Luft.
    »Boris!« rief ich.
    Der Junge, der hinter der Menge zurückblieb, schaute mich noch einmal an.
    »Boris! Diese Busfahrt, du erinnerst dich doch? Diese Busfahrt zum künstlichen See. Erinnerst du dich noch, Boris, wie schön das war? Wie nett all die Leute in dem Bus zu uns gewesen sind? Die Kleinigkeiten, die sie uns geschenkt haben, der Gesang. Daran erinnerst du dich doch, Boris?«
    Die Fahrgäste stiegen jetzt aus. Boris warf mir noch einen letzten Blick zu, und dann war er verschwunden. Mehr und mehr Leute hasteten an mir vorbei, und dann setzte sich die Straßenbahn auch schon wieder in Bewegung.
    Nach einer Weile drehte ich mich um und ging an meinen Platz zurück. Der Elektriker lächelte fröhlich, als ich mich wieder ihm gegenüber hinsetzte. Dann wurde mir bewußt, daß er sich vorbeugte und meine Schulter tätschelte, und ich merkte, daß ich schluchzte.
    »Hören Sie«, sagte er, »im ersten Moment scheint immer alles ganz schlimm zu sein. Aber das geht vorbei, nichts ist so schlimm, wie es im ersten Moment aussieht. Kopf hoch.« Eine Weile fuhr er mit seinen leeren Phrasen fort, während ich immer weiterschluchzte. Dann hörte ich ihn sagen: »Schauen Sie, frühstücken Sie doch einfach ein wenig. Essen Sie doch etwas, wie wir anderen auch. Dann fühlen Sie sich bestimmt gleich viel besser. Na los. Gehen Sie sich doch etwas zu essen holen.«
    Ich schaute auf und sah, daß der Elektriker einen Teller auf dem Schoß hielt, auf dem ein halb gegessenes Croissant und ein kleines Stückchen Butter lagen. Seine Knie waren von Krümeln übersät.
    »Ach«, sagte ich, richtete mich auf und nahm wieder Haltung an. »Wo haben Sie das denn her?«
    Der Elektriker deutete über meine Schulter nach hinten. Ich drehte mich um und sah, daß etliche der Fahrgäste ganz hinten in der Bahn standen, wo eine Art Buffet aufgebaut worden war. Mir fiel auch auf, daß die ganze hintere Hälfte des Wagens inzwischen regelrecht überfüllt war und daß überall um uns herum Fahrgäste aßen und tranken. Das Frühstück des Elektrikers war bescheiden verglichen mit vielen anderen; ich sah, daß sich Leute den Weg durch den Wagen bahnten und große Teller mit Eiern, Speck, Tomaten und Würstchen in der Hand hielten.
    »Na los«, sagte der Elektriker wieder. »Holen Sie sich etwas zu essen. Dann reden wir über Ihre Probleme. Oder wenn Ihnen das lieber ist, vergessen wir Ihre Probleme und reden über all das, worüber Sie gern reden möchten, über alles, was Sie aufheitern könnte. Fußball, Film, egal über was. Aber zuerst müssen Sie sich etwas zu essen holen. Sie sehen aus, als hätten
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