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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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einfach...«
    »Ach, da wären wir ja. Hier entlang bitte.« Wir waren bei einer Art Durchgang angelangt, und Stephan zerrte an einer Gardine, die davor hing. »Hier hindurch, und dann sind wir auch schon da.«
    »Entschuldigung, aber wo sind wir denn?«
    »Im Wintergarten. Ach, vielleicht haben Sie noch gar nichts über den Wintergarten gehört. Er ist hochberühmt. Er wurde hundert Jahre nach dem eigentlichen Konzertsaal errichtet, aber inzwischen ist er beinahe ebenso berühmt. Da sind jetzt alle und frühstücken.«
    Wir fanden uns auf einem Korridor wieder, an dessen einer Seite sich über die ganze Länge eine Reihe von Fenstern zog. Durch das am nächsten gelegene Fenster sah ich den hellblauen Morgenhimmel.
    »Ach, übrigens«, sagte ich, als wir wieder weitergingen. »Was ist eigentlich mit Mr. Brodsky? Ich meine, wie geht es ihm? Ist er... gestorben?«
    »Mr. Brodsky? O nein, er kommt wieder ganz in Ordnung, da bin ich sicher. Man hat ihn irgendwo hingebracht. Also, ich habe gehört, daß man ihn in das Sankt-Nicholas-Krankenhaus gebracht hat.«
    »Das Sankt-Nicholas-Krankenhaus?«
    »Der Ort, an dem die aufgenommen werden, die ganz am Ende sind. Im Wintergarten eben haben die Leute darüber geredet, und, na ja, sie haben gesagt, daß er dort auch hingehöre, daß man dort wisse, wie man mit solchen Problemen umzugehen habe. Ich war ein wenig schockiert, um ehrlich zu sein. Also eigentlich – das sage ich Ihnen jetzt ganz im Vertrauen, Mr. Ryder – hat mir all das sehr bei meiner Entscheidung geholfen. Ich meine, das mit meinem Weggang. Diese Vorstellung, die Mr. Brodsky heute abend gegeben hat, war meiner Meinung nach das Großartigste, was in diesem Konzertsaal seit vielen, vielen Jahren zu hören gewesen ist. Jedenfalls seit ich bewußt Musik zu hören verstehe. Aber Sie haben ja gesehen, was passiert ist. Die Leute wollten das nicht, es hat sie erschreckt. Es war weit mehr, als sie je erwartet hatten. Sie sind sehr erleichtert, daß er so zusammengebrochen ist. Sie wissen jetzt, daß sie etwas anderes wollen. Etwas nicht ganz so Extremes.«
    »Etwas, das sich nicht so sehr von dem unterscheidet, was Mr. Christoff geboten hat, vielleicht.«
    Stephan dachte darüber nach. »Ein wenig anders schon. Wenigstens ein neuer Name. Sie wissen jetzt, daß Mr. Christoff nicht so ganz das Wahre ist. Ein wenig besser soll es schon sein. Aber... aber jedenfalls nicht so .«
    Durch das Fenster sah ich jetzt den weithin sich erstreckenden Rasen und die Sonne, die in der Ferne über einer Reihe von Bäumen aufging.
    »Und was glauben Sie wird jetzt aus Mr. Brodsky werden?« fragte ich.
    »Mr. Brodsky? Ach, der wird einfach wieder zu dem Leben zurückkehren, das er vorher auch schon geführt hat. Ich nehme an, er wird wohl seine Tage als Trunkenbold beschließen. Andere Möglichkeiten wird man ihm wohl nicht einräumen, jedenfalls nicht nach heute abend. Wie gesagt, man hat ihn in das Sankt-Nicholas-Krankenhaus gebracht. Ich bin hier aufgewachsen, Mr. Ryder, und in mancherlei Hinsicht liebe ich diese Stadt noch immer. Aber jetzt will ich wirklich unbedingt fort von hier.«
    »Vielleicht sollte ich versuchen, etwas zu sagen. Ich meine, vielleicht sollte ich vor den Leuten im Wintergarten eine kleine Rede halten. Ein paar Worte über Mr. Brodsky sagen. Damit sie, was ihn betrifft, die Dinge richtig sehen.«
    Stephan dachte während der nächsten paar Schritte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf.
    »Das lohnt die Mühe nicht, Mr. Ryder.«
    »Aber ich muß sagen, daß mir das genausowenig gefällt wie Ihnen. Man weiß ja nie. Ein paar Worte von mir könnten vielleicht...«
    »Ich glaube kaum, Mr. Ryder. Jetzt würden die Leute nicht einmal mehr auf Sie hören. Nicht nach dieser Vorstellung von Mr. Brodsky. Das hat sie an etwas erinnert, vor dem sie Angst haben. Außerdem gibt es in dem Wintergarten kein Mikrofon oder sonst etwas, nicht einmal ein Podest, von dem aus Sie reden könnten. Über all dem Lärm würde man Sie nie im Leben hören. Sehen Sie, der Wintergarten ist recht groß, fast so groß wie der Konzertsaal selbst. Von einer Ecke in die andere sind es bestimmt... tja, sogar wenn man ganz genau diagonal durchgeht, alle Tische und alle im Weg sitzenden Gäste beiseite schiebt, würden Sie immer noch auf mindestens fünfzig Meter kommen. Es ist ein ganz schön großer Raum, das werden Sie ja sehen. Ich an Ihrer Stelle, Mr. Ryder, würde mich jetzt einfach entspannen und mein Frühstück genießen.
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