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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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zu. Während ich das tat, streifte plötzlich eine Gestalt an mir vorbei.
    »Oh, Entschuldigung«, sagte die Person. »Ich bitte um Verzeihung.«
    Ich erkannte Stephans Stimme und sagte: »Hallo. Also wenigstens Sie sind noch hier.«
    »Ach, Mr. Ryder. Tut mir leid, ich habe Sie gar nicht gesehen.« Es klang müde und niedergeschlagen.
    »Sie sollten aber wirklich ein wenig fröhlicher sein«, sagte ich zu ihm. »Sie haben eine fabelhafte Vorstellung gegeben. Das Publikum war außerordentlich bewegt.«
    »Ja. Ja, ich nehme an, sie haben meinen Auftritt ganz gut aufgenommen.«
    »Na jedenfalls, herzlichen Glückwunsch. Nach all der harten Arbeit muß das sehr befriedigend für Sie sein.«
    »Ja, ich denke schon.«
    Wir gingen jetzt nebeneinander durch die Dunkelheit. Das Tageslicht, das von der Decke hereinfiel, machte es höchstens noch schwieriger zu sehen, wohin man ging, doch Stephan schien den Weg zu kennen.
    »Wissen Sie, Mr. Ryder«, sagte er nach einer Weile, »ich bin Ihnen wirklich außerordentlich dankbar. Sie haben mich so wunderbar ermutigt. Doch die Wahrheit ist, ich habe heute abend den Erwartungen wirklich nicht entsprochen. Jedenfalls meinen Erwartungen nicht. Natürlich habe ich viel Applaus bekommen, aber das doch nur, weil die Leute etwas so Spezielles nicht erwartet hatten. Aber ganz im Ernst, ich weiß, daß ich noch einen weiten Weg vor mir habe. Meine Eltern hatten recht.«
    »Ihre Eltern? Du liebe Güte, über die sollten Sie sich keine Gedanken machen.«
    »Nein, nein, Mr. Ryder, Sie verstehen nicht. Meine Eltern, sehen Sie, legen wirklich allerhöchste Maßstäbe an. Die Leute, die heute abend hier gewesen sind, die waren ja wirklich sehr freundlich, aber viel Ahnung haben sie nicht von diesen Dingen. Sie haben gesehen, daß ein junger Mann von hier auf einem gewissen Niveau gespielt hat, und sind deswegen ganz aufgeregt gewesen. Aber ich will an den wirklichen Maßstäben gemessen werden. Und ich weiß, das wollen meine Eltern auch. Ich habe einen Entschluß gefaßt, Mr. Ryder. Ich gehe weg von hier. Ich muß einfach in eine größere Stadt, muß bei jemandem wie Lubetkin oder Peruzzi studieren. Ich sehe jetzt ein, daß ich hier nie das Niveau erreichen werde, das mir vorschwebt, nicht hier in dieser Stadt. Sehen Sie sich doch bloß an, wie sie etwas beklatscht haben, was doch schließlich nur eine ganz gewöhnliche Interpretation der Glass Passions gewesen ist. Genau das ist es doch. Ich habe das vorher nicht so klar gesehen, aber ich nehme an, es wäre nicht verkehrt, mich als einen großen Fisch in einem kleinen Teich zu bezeichnen. Ich sollte für eine Weile weggehen. Sollte herausfinden, was ich wirklich kann.«
    Wir gingen weiter, und unsere Schritte hallten durch den Saal. Dann sagte ich:
    »Das ist wahrscheinlich ein sehr kluger Entschluß. Ja, ich bin überzeugt, daß Sie die richtige Entscheidung getroffen haben. Ein Umzug in eine größere Stadt, größere Herausforderungen, ich bin überzeugt, es wird Ihnen guttun. Aber Sie müssen sehr aufpassen, bei wem Sie studieren. Wenn Sie möchten, werde ich einmal darüber nachdenken und dann sehen, ob ich etwas für Sie arrangieren kann.«
    »Wenn Sie das tun würden, Mr. Ryder, wäre ich Ihnen ewig dankbar. Ja, ich muß einfach sehen, was noch in mir steckt. Dann komme ich eines Tages hierher zurück und zeige es ihnen allen. Ich werde ihnen zeigen, wie man die Glass Passions wirklich spielt.« Er lachte auf, aber immer noch wirkte er alles andere als fröhlich.
    »Sie sind ein talentierter junger Mann. Sie haben alles noch vor sich. Sie sollten wirklich besserer Laune sein.«
    »Ja, ich denke, das sollte ich wohl. Ich denke, ich bin einfach nur ein bißchen entmutigt. Bis heute abend hatte ich nicht begriffen, welch steiler Weg noch vor mir liegt. Das finden Sie bestimmt sehr komisch, aber wissen Sie, ich hatte gedacht, ich könnte diese ganze Sache heute abend schon erfolgreich zu Ende führen. Da sieht man mal, was passiert, wenn man an so einem Ort lebt. Man fängt allmählich an, nur noch in kleinen Maßstäben zu denken. Jawohl, ich hatte gedacht, ich würde heute abend alles schaffen, was nur zu schaffen ist! Da sehen Sie, wie lächerlich meine Einschätzung bis heute gewesen ist. Meine Eltern haben ganz recht. Ich habe noch eine Menge zu lernen.«
    »Ihre Eltern? Also hören Sie, ich kann Ihnen nur raten, vergessen Sie vorläufig einmal Ihre Eltern. Ich verstehe wirklich nicht, wenn ich das so sagen darf, wie sie
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