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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Schließlich müssen Sie ja jetzt an Helsinki denken.«
    Der Wintergarten, in morgendliches Sonnenlicht getaucht, hatte tatsächlich riesige Ausmaße. Überall unterhielt man sich fröhlich, manche saßen an Tischen, andere standen in kleinen Gruppen zusammen. Ich sah die Leute Kaffee und Fruchtsaft trinken, andere aßen von Tellern oder aus Schüsseln, und als wir uns unseren Weg durch die Menge bahnten, stieg mir der Duft nach frischen Brötchen, nach Fischpastetchen und nach Speck in die Nase. Ich sah Kellner mit Tabletts und Kaffeekannen hin und her eilen. Überall um mich herum begrüßten sich voller Freude Stimmen, und die ganze Atmosphäre wirkte auf mich wie die einer Wiedersehensfeier. Und doch waren dies Menschen, die sich regelmäßig trafen. Ganz offensichtlich hatten die Ereignisse des Abends dazu geführt, daß sie sich selbst und ihre Gemeinde in völlig neuem Licht sahen, und die daraus resultierende Stimmung schien, aus welchem Grund auch immer, dazu geführt zu haben, daß man sich gegenseitig feierte.
    Ich begriff jetzt, daß Stephan recht gehabt hatte. Es hatte wenig Sinn, vor dieser Menge eine Rede zu halten, geschweige denn sie zu bitten, zu meinem Konzert in den Zuschauerraum zurückzukehren. Plötzlich spürte ich, daß ich müde war und großen Hunger hatte, also beschloß ich, mich zu setzen und selbst auch etwas zu frühstücken. Doch als ich mich umsah, konnte ich nirgendwo mehr einen freien Stuhl entdecken. Und als ich mich umdrehte, mußte ich außerdem feststellen, daß Stephan nicht mehr neben mir war, sondern sich von einer Gruppe an einem Tisch, an dem wir gerade vorbeigekommen waren, in ein Gespräch hatte ziehen lassen. Ich sah, daß man ihn sehr warmherzig begrüßte, und rechnete mehr oder weniger damit, daß er mich vorstellen würde. Doch er schien inzwischen sehr in das Gespräch vertieft zu sein, und bald schon trug auch er ein fröhliches Gebaren zur Schau.
    Ich beschloß, ihn zu lassen, wo er war, und ging weiter durch die Menge. Ich dachte, daß mich früher oder später ein Kellner entdecken und dann mit einem Teller und einer Tasse Kaffee auf mich zueilen und mich vielleicht auch an einen freien Platz führen würde. Doch obwohl tatsächlich einige Male ein Kellner in meine Richtung gelaufen kam, eilte er jedesmal an mir vorbei, und ich mußte mit ansehen, wie er jemand anderen bediente.
    Nach einer Weile merkte ich dann, daß ich in der Nähe des Haupteingangs des Wintergartens stand. Jemand hatte die Türen weit offengelassen, und viele Besucher waren auf den Rasen hinausgetreten. Auch ich machte ein paar Schritte nach draußen, und die Kühle der Luft überraschte mich. Aber auch hier standen die Leute in Gruppen zusammen und redeten, tranken ihren Kaffee oder aßen im Stehen. Einige hatten sich umgedreht, um den Sonnenaufgang zu betrachten, während andere umherschlenderten und sich die Beine vertraten. Eine Gruppe hatte sich sogar in das feuchte Gras gesetzt, Teller und Kaffeetassen standen um sie herum wie bei einem Picknick.
    Ganz in der Nähe entdeckte ich auf dem Rasen einen Servierwagen, über den sich geschäftig ein Kellner gebeugt hatte. Da ich inzwischen noch hungriger geworden war, bahnte ich mir einen Weg dorthin und wollte dem Kellner gerade auf die Schulter klopfen, als er sich umdrehte und an mir vorbeilief, die Arme vollbeladen mit drei großen Tellern – auf denen ich Rühreier, Würstchen, Pilze und Tomaten sah. Ich schaute ihm hinterher, wie er weitereilte, dann beschloß ich, daß ich mich nicht eher von dem Servierwagen wegrühren würde, bis er zurückgekommen wäre.
    Während ich wartete, betrachtete ich die Szene um mich herum und bemerkte, daß ich mir völlig grundlos Sorgen darüber gemacht hatte, ich könnte den verschiedenen Anforderungen, mit denen ich hier in der Stadt konfrontiert würde, nicht gewachsen sein. Wie jedesmal hatten sich meine Erfahrung und mein Instinkt als ausreichend erwiesen, um mir über alles hinwegzuhelfen. Natürlich war ich in gewisser Weise enttäuscht über den heutigen Abend, doch während ich weiter darüber nachdachte, begriff ich dann, wie unangebracht derartige Gefühle waren. Wenn eine Gemeinde auch ohne die Anleitung eines Außenstehenden zu einer Art Gleichgewicht finden konnte – dann um so besser.
    Als der Kellner nach ein paar Minuten immer noch nicht zurückgekehrt war – während dieser Zeit waren mir ständig die verschiedensten Düfte, die von den heißen Behältern auf dem Wagen kamen,
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