Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
Sie schon eine ganze Weile nichts mehr bekommen.«
    »Da haben Sie ganz recht«, erwiderte ich. »Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, fällt mir auf, daß ich schon sehr lange nichts mehr gegessen habe. Aber sagen Sie mir doch bitte eines. Wohin fährt die Bahn eigentlich? Ich muß zu meinem Hotel zurück und meine Sachen packen. Wissen Sie, ich fliege heute vormittag nach Helsinki. Ich muß ziemlich bald in mein Hotel zurück.«
    »Ach, diese Straßenbahn fährt Sie an fast jeden Ort in der Stadt, an den Sie möchten. Das hier nennen wir die Morgenrunde. Dann gibt es auch noch die Abendrunde. Zweimal am Tag fährt eine Bahn die gesamte Rundstrecke ab. O ja, Sie kommen mit dieser Bahn fast überallhin. Mit der Bahn am Abend natürlich auch, aber die Atmosphäre ist dann ganz anders. O ja, das ist wirklich eine phantastische Bahn.«
    »Wie wunderbar. Tja dann, wenn Sie mich entschuldigen wollen. Ich denke, ich werde Ihren Rat beherzigen und mir jetzt etwas zu essen holen. Ja, eigentlich haben Sie ganz recht. Allein beim Gedanken daran geht es mir schon besser.«
    »So ist es recht«, sagte der Elektriker und hob sein Croissant wie zum Gruß.
    Ich stand auf und ging in den hinteren Bereich des Wagens. Verschiedene Düfte wurden von dort zu mir herübergetragen. Einige Leute waren im Begriff, sich zu bedienen, doch als ich über ihre Schultern hinweg nach vorn schaute, sah ich, daß direkt unter dem hinteren Fenster der Straßenbahn ein üppiges Buffet in einem Halbkreis aufgebaut worden war. Es war aufgetischt, was das Herz begehrte: Rühreier, Spiegeleier, eine reiche Auswahl an Aufschnitt und Würstchen, Bratkartoffeln, Pilze, gegrillte Tomaten. Es gab eine große Platte mit Rollmöpsen und anderen Fischgerichten, zwei große Körbe mit Croissants und verschiedene Brötchensorten, eine Glasschale mit frischem Obst, etliche Kannen voller Kaffee und Krüge mit Säften. Alle um das Buffet herum schienen mehr als bestrebt, an das Essen zu gelangen, und doch war die Atmosphäre außerordentlich herzlich, man reichte sich gegenseitig Dinge und tauschte freundliche Bemerkungen aus.
    Ich nahm mir einen Teller, dabei schaute ich hoch und durch das rückwärtige Fenster auf die hinter uns zurückbleibenden Straßen der Stadt, und meine Stimmung wurde immer besser. So schlecht war es schließlich doch nicht gelaufen. Welche Enttäuschungen diese Stadt mir auch gebracht haben mochte, es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß die Menschen meine Anwesenheit hier sehr zu schätzen gewußt hatten – genau wie an allen anderen Orten, an denen ich bisher gewesen war. Und hier stand ich nun, mein Besuch war fast zum Abschluß gekommen, und vor mir stand ein außerordentlich eindrucksvolles Buffet, das praktisch alles bot, was ich mir je zum Frühstück gewünscht hatte. Vor allem die Croissants sahen sehr vielversprechend aus. Und in der Tat, aus der Art und Weise, in der die Fahrgäste überall im Wagen ihre Croissants verschlangen, mußte man unweigerlich schließen, daß sie vollkommen frisch und von höchster Qualität waren. Andererseits sah wirklich alles, auf das mein Blick fiel, äußerst verlockend aus.
    Ich fing an, mir von allem etwas zu nehmen. Dabei sah ich mich allmählich vor meinem geistigen Auge schon wieder auf meinem Platz sitzen und angenehm mit dem Elektriker plaudern, und zwischen den einzelnen Bissen würde ich die frühmorgendlichen Straßen betrachten. In vielerlei Hinsicht war der Elektriker im Augenblick der ideale Gesprächspartner für mich. Er war ganz offensichtlich warmherzig, doch gleichzeitig sehr darauf bedacht, nicht aufdringlich zu erscheinen. Ich konnte ihn von hier aus erkennen, er aß immer noch an seinem Croissant, offenbar hatte er keine Eile, die Straßenbahn zu verlassen. Es sah im Gegenteil so aus, als sei er entschlossen, noch eine ganze Weile sitzen zu bleiben. Und da diese Straßenbahnlinie einen vollständigen Kreis beschrieb, war es durchaus möglich, daß er, vorausgesetzt wir beide genossen unsere Unterhaltung, zu den Menschen gehörte, die erst aussteigen würden, wenn wir das nächste Mal seine Haltestelle erreichten. Auch das Buffet würde offensichtlich noch eine ganze Weile aufgebaut bleiben, so daß wir dann und wann unser Gespräch unterbrechen und unsere Teller noch einmal füllen konnten. Ich sah schon, wie wir uns ständig gegenseitig aufforderten, uns noch einmal zu bedienen. »Na los! Noch ein kleines Würstchen! Bitte, geben Sie mir Ihren Teller, ich bringe Ihnen eins
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher