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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
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erinnern Sie sich also?«
    »Ja, sie schien sehr nett zu sein. Das muß jetzt wohl, ach, mindestens dreizehn, vierzehn Jahre her sein. Vielleicht auch noch länger.«
    Ich nickte begeistert. »Das würde dann genau zu dem passen, was mir Miss Stratmann erzählt hat. Ja, das war meine Mutter. Sagen Sie mir, hatten Sie den Eindruck, daß es ihr hier gut gefallen hat?«
    Der Elektriker dachte angestrengt nach, dann sagte er: »So wie ich es in Erinnerung habe, schien es ihr hier sehr zu gefallen, ja. Tatsächlich« – er hatte meinen besorgten Blick aufgefangen -, »tatsächlich bin ich sicher, daß es ihr wirklich sehr gefallen hat.« Er beugte sich vor und tätschelte freundlich mein Knie. »Ich bin wirklich fest davon überzeugt, daß es ihr hier sehr gut gefallen hat. Schauen Sie, überlegen Sie doch einfach einmal. Es muß ihr doch hier gefallen haben, glauben Sie nicht?«
    »Ich denke schon«, sagte ich und drehte mich zum Fenster um. Das Sonnenlicht glitt durch das Innere der Straßenbahn. »Ich denke schon. Es ist nur so, daß…« Ich seufzte tief. »Es ist nur so, daß ich wünschte, ich hätte das damals gewußt. Ich wünschte, jemand hätte daran gedacht, mir davon zu erzählen. Und was ist mit meinem Vater? Hatten Sie den Eindruck, daß es ihm auch gut gefallen hat?«
    »Ihr Vater. Hhm.« Der Elektriker runzelte die Stirn.
    »Er muß damals wohl recht dünn gewesen sein«, sagte ich. »Das Haar schon ziemlich grau. Er hatte ein Lieblingsjackett. Aus Tweed, hellgrün, mit Lederflicken auf den Ellenbogen.«
    Der Elektriker dachte weiter nach. Dann schüttelte er schließlich den Kopf. »Tut mir leid. Ich glaube nicht, daß ich mich an Ihren Vater erinnere.«
    »Aber das ist nicht möglich. Miss Stratmann hat mir versichert, daß sie gemeinsam hier gewesen sind.«
    »Und damit hat sie auch ganz bestimmt recht. Es ist nur so, daß ich mich nicht an Ihren Vater erinnern kann. An Ihre Mutter, ja. Aber an Ihren Vater...« Er schüttelte wieder den Kopf.
    »Aber das ist doch lächerlich! Was hätte meine Mutter denn hier allein machen sollen?«
    »Ich sage ja nicht, daß er nicht bei ihr war. Es ist nur so, daß ich mich nicht an ihn erinnern kann. Schauen Sie, regen Sie sich doch nicht so auf. Ich hätte gar nicht so offen gesprochen, hätte ich gewußt, daß Sie das so aufregen würde. Ich habe ein schreckliches Gedächtnis. Jeder sagt das. Gerade gestern erst habe ich nach dem Mittagessen meinen Werkzeugkasten bei meinem Schwager stehengelassen. Vierzig Minuten hat es mich gekostet, zurückzufahren und ihn zu holen. Mein Werkzeugkasten!« Er lachte auf. »Sie sehen, ich habe ein schreckliches Gedächtnis. In einer so wichtigen Angelegenheit sollte man mir wirklich als allerletztem trauen. Ich bin sicher, Ihr Vater ist gemeinsam mit Ihrer Mutter hier gewesen. Vor allem, wenn andere Leute das auch sagen. Wirklich, auf mich sollte man sich als allerletzten verlassen.«
    Doch inzwischen hatte ich mich schon von ihm weggedreht und schaute wieder zum vorderen Bereich der Straßenbahn, wo Boris endlich seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Er lag jetzt in den Armen seiner Mutter, und ich sah, daß sich seine Schultern mit seinen Schluchzern hoben und senkten. Plötzlich schien es nichts Wichtigeres mehr zu geben, als zu ihm zu gehen, und indem ich in Richtung des Elektrikers kurz eine Entschuldigung brummelte, stand ich auf und fing an, mir meinen Weg durch den Wagen zu bahnen.
    Ich hatte sie beinahe schon erreicht, als die Straßenbahn plötzlich eine scharfe Kurve nahm, und ich war gezwungen, nach einer Haltestange ganz in der Nähe zu greifen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als ich wieder hinsah, wurde mir klar, daß Sophie und Boris mich noch nicht bemerkt hatten, obwohl ich inzwischen schon ganz in ihrer Nähe stand. Sie hielten sich immer noch fest umarmt, die Augen hatten sie geschlossen. Flecken von Sonnenlicht glitten über ihre Arme und Schultern. An der Art, wie sie sich gegenseitig trösteten, war etwas derart Intimes, daß es selbst mir unmöglich erschien, mich aufzudrängen. Und als ich sie weiter anschaute, spürte ich allmählich, selbst angesichts ihres offensichtlichen Kummers, ein merkwürdiges Gefühl des Neides. Ich ging noch ein wenig näher heran, bis ich gleichsam die Beschaffenheit ihrer Umarmung fühlte.
    Dann öffnete Sophie endlich die Augen. Mit ausdruckslosem Blick betrachtete sie mich, während der Junge weiter an ihrem Busen schluchzte.
    »Es tut mir leid«, sagte ich
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