Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
mich sonst üblichen Niveau zu geben. Dem nicht zu entsprechen – das spürte ich plötzlich ganz intensiv – wäre so, als würde ich eine fremde Tür öffnen und in einen dunklen, unbekannten Raum geschleudert werden.
    Nach einer Weile war mir der Korridor überhaupt nicht mehr vertraut. Die Tapeten waren hier dunkelblau, signierte Fotografien hatten die Gemälde ersetzt, und mir wurde klar, daß ich meine Tür verpaßt hatte. Doch ich sah, daß ich mich jetzt einer anderen, weit wichtigeren Tür mit der Aufschrift »Bühne« näherte, und beschloß hineinzugehen.
    Eine Zeitlang tastete ich mich durch Dunkelheit, dann befand ich mich wieder in den Kulissen. Ich konnte den Flügel mitten auf der leeren Bühne erkennen, der schwach von ein oder zwei Deckenscheinwerfern beleuchtet wurde. Ich sah außerdem, daß der Vorhang noch geschlossen war, und trat leise auf die Bühne hinaus.
    Ich schaute zu der Stelle hin, an der Brodsky vorhin gelegen hatte, aber es war nichts mehr zu sehen. Dann drehte ich mich zu dem Flügel um, unsicher, wie ich jetzt verfahren sollte. Wenn ich mich jetzt auf den Stuhl setzte und einfach zu spielen anfing, war es sehr gut möglich, daß die Techniker geistesgegenwärtig genug sein würden, den Vorhang hochzuziehen und die Scheinwerfer einzuschalten. Doch andererseits war da auch die Möglichkeit – man konnte ja nie wissen, was inzwischen vorgefallen war -, daß die Techniker ihren Posten verlassen hatten und daß sich der Vorhang erst gar nicht öffnen würde. Außerdem hatten die Leute bei meinem letzten Blick aufs Publikum ja schon herumgestanden und unruhig miteinander geredet. Am besten war es wohl, beschloß ich, vor den Vorhang zu treten und eine Ankündigung zu machen, und so hätten dann alle – das Publikum, die Techniker – Gelegenheit, sich vorzubereiten. Schnell legte ich mir ein paar Sätze zurecht, und dann trat ich ohne weitere Umschweife auf den Spalt im Vorhang zu und zog den schweren Stoff beiseite.
    Ich war darauf vorbereitet gewesen, den Saal in einiger Unordnung vorzufinden, doch der Anblick, der sich mir bot, bestürzte mich sehr. Nicht nur, daß das gesamte Publikum verschwunden war, es fehlte auch die ganze Bestuhlung. Mir kam der Gedanke, daß der Konzertsaal vielleicht über eine Art Vorrichtung verfügte, über einen Hebel, mittels dessen sämtliche Stühle im Boden verschwanden – so daß der Raum auch noch eine zweite Funktion als Ballsaal oder ähnliches erfüllen konnte -, doch dann erinnerte ich mich daran, wie alt das Gebäude war, und kam zu dem Schluß, daß dies höchst unwahrscheinlich war. Ich konnte nur vermuten, daß es sich um stapelbare Stühle handelte, die man als Brandschutzmaßnahme inzwischen weggeräumt hatte. Jedenfalls erstreckte sich jetzt vor mir ein riesiger, dunkler, menschenleerer Raum. Es brannten überhaupt keine Lampen, statt dessen hatte man große, rechteckige Platten aus der Decke entfernt, so daß das Tageslicht in bleichen Strahlen zu Boden fiel.
    Ich schaute in das trübe Licht und glaubte, am hintersten Ende des Saals einige Gestalten ausmachen zu können. Sie schienen dort zu stehen und sich zu unterhalten – vielleicht waren es die Bühnenarbeiter, die gerade mit dem Aufräumen fertig geworden waren -, und dann hörte ich das Echo von Schritten, als einer von ihnen langsam irgendwohin fortging.
    Ich stand am Bühnenrand und fragte mich, was ich jetzt wohl tun sollte. Ich hatte, so nahm ich an, weit mehr Zeit in Miss Stratmanns Büro verbracht, als ich gedacht hatte – möglicherweise über eine Stunde -, und ganz offensichtlich hatte das Publikum alle Hoffnung aufgegeben, ich könnte überhaupt noch erscheinen. Aber wenn die Ankündigung gemacht würde, könnten die Besucher dennoch innerhalb weniger Minuten wieder zurückgebracht werden, und trotz der fehlenden Stühle sah ich keinen Grund dafür, daß ein vollkommen zufriedenstellendes Konzert unmöglich sein sollte. Allerdings blieb immer noch unklar, wohin all die Leute gegangen waren, und ich begriff, daß ich zuerst Hoffman, oder wer sonst inzwischen die Verantwortung übernommen hatte, aufspüren und mit ihm den nächsten Schritt besprechen mußte.
    Ich kletterte von der Bühne hinunter und machte mich auf den Weg durch den Saal. Ich hatte noch nicht einmal die Hälfte der Strecke zurückgelegt, da hatte ich auf einmal in all der Dunkelheit die Orientierung verloren, und indem ich ein wenig die Richtung änderte, ging ich auf den nächstgelegenen Lichtstrahl
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher