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Schwarzer Tanz

Schwarzer Tanz

Titel: Schwarzer Tanz
Autoren: Tanith Lee
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1
    Sie lief durch ein Gefängnis. Alles um sie herum war in Bewegung. In regelmäßigen Intervallen tauchte der Schein einer Laterne wie ein großer dünner Baum vor ihr auf, oder eine winklige Mauer sprang ihr aus dem Nebel entgegen.
    Von hoch droben spähten elektrisch beleuchtete Fenster mit ihrem gedämpften Licht herab. Sie kannte den Weg auswendig.
    Der Nebel verströmte einen traurigen, melancholischen Geruch, der alles unter sich zu ersticken drohte. Es kam ihr vor, als verfolge sie jemand, ein völlig irrationales Gefühl, da es von allen Seiten gleichzeitig auf sie eindrang.
    Die Frau lief weiter. Sie war schlank und trug einen dunklen Mantel. Ihr dichtes Haar reichte bis auf ihren Rücken hinab, es war tiefschwarz und umrahmte ihr Gesicht in großen Wellen. Ein schmales weißes Gesicht mit zwei blassen Augen. Mit der einen Hand hielt sie ihren Kragen geschlossen. Ihre Nägel waren unlackiert und ziemlich lang.
    Sie bog in die Lizard Street ein, lief an dem großen Gebäude mit den Löwen vorbei und betrat die Buchhandlung.
    » Oh, Rachaela. Sie kommen zu spät.«
    » Ja«, sagte sie.
    » Zwanzig Minuten.«
    Sie ging an Mister Gerard vorbei nach hinten, in den winzigen Raum mit seinem Wasserkessel, den Massen an Zeitungen und den Stapeln von Büchern, in glänzendes Plastik verpackt und brandneu, oder so alt wie sterbende, zerfallende Motten. Sie hängte ihren Mantel an den Haken.
    Darunter trug sie einen schwarzen Rock, eine dunkle Strickjacke und Stiefel. Der Laden war niemals warm, außer wenn er in der sengenden Hitze des Sommers zum Backofen wurde und man nichts anderes auf der Haut ertragen konnte als ganz dünne Hemdchen, Mister Gerard jedoch immer noch in seiner verschwitzten Jacke und Krawatte herumlungerte. Heute trug er seinen bunten Norwegerpullover, ein fröhliches Muster unter seinem fetten Gesicht, das stets aussah, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen.
    Er überließ ihr seinen Platz hinter dem Ladentisch.
    » Zeichnen Sie diese Bücher hier anhand meiner Liste aus.«
    Rachaela nickte.
    Der Job brachte nicht viel ein, und außerdem wurde von ihr erwartet, dass sie den Tee zubereitete, belegte Brote holte, den Boden fegte und die Regale abstaubte, was sie jedoch nur selten tat. Sie widersprach nie und beschwerte sich auch nicht, entschuldigte sich andererseits aber auch nicht für ihre Trägheit oder ihr ständiges Zuspätkommen. Mister Gerard drohte ihr nicht. Sie hatte ihn weder bestohlen noch gab sie freche Antworten. Wenn er wegen irgendeiner Sache in die Luft ging, starrte sie einfach vor sich hin und schien seinen Ausbruch im nächsten Moment schon wieder vergessen zu haben. Zu den wenigen Kunden war sie so höflich wie eine Marionette. Mister Gerard wusste so gut wie nichts von ihr. Eine mysteriöse Frau.
    Als Mister Gerard sich in den hinteren Teil seiner schäbigen, muffigen Höhle zurückgezogen hatte, kam ein Mann herein, um ein Buch zu kaufen. Der Nebel schlich sich in trüben Schwaden mit ihm in den Raum, und als wollte er die Lücken füllen, wand er sich um die Bücherbände.
    » Fürchterlicher Tag«, sagte der Mann. » Ich dachte, wir hätten so was schon seit Jahren hinter uns. Schauderhaftes Wetter.«
    Rachaela steckte sein Buch in eine Tüte und tippte den Preis in die Kasse. Die Ladenkasse war einer der Gründe dafür gewesen, dass sie sich vor einem Jahr um diesen Job beworben hatte. Sie hasste Computer, sie jagten ihr Angst ein. Sie mochte alte Dinge, deshalb fühlte sie sich in diesem Laden gar nicht einmal so unwohl.
    Der Kunde nahm sein Buch und reichte ihr das Geld. Rachaela zählte langsam sein Wechselgeld ab. Zahlen machten ihr ebenfalls zu schaffen. Eigentlich machten sie nur gedruckte Worte richtig glücklich.
    » Entschuldigen Sie«, sagte der Kunde. Rachaela sah ihn an, sie schien erschrocken. War ihr beim Wechselgeld ein Fehler unterlaufen?
    » Sie sind Miss Day, nicht wahr?«
    Sie zögerte.
    Und als würde sie ein gefährliches Geheimnis preisgeben, flüsterte sie: » Ja.«
    Ihre Stimme hatte einen leisen, weichen, leicht nasalen Klang.
    » Das habe ich mir gedacht. Ich soll Ihnen das hier bringen.« Er überreichte ihr einen braunen Umschlag. Misstrauisch nahm sie ihn entgegen. Sie stellte keine Fragen, doch ihre schlanken Finger mit den langen Nägeln berührten den Umschlag nur widerwillig, ihre Hand verharrte in der Luft.
    » Ich erkläre das wohl besser«, sagte er freundlich. » Ich komme von nebenan. Lane und Soames. Der Boss hat mich
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