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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde
Autoren: Irena Brezna
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privaten Worten wie bauchigen Engeln, wurde immer schwächer. Begegnete ich einmal mehr auf knochige Information abgemagerter Sprödheit, ertrug ich sie standhaft, ohne Schmerzen. Vorher hatte ich in einem Verlies gelebt, das ich mir aus falschen Erwartungen gezimmert hatte. Aufgewachsen im Kreis, war ich unfähig, das Viereck und all die geometrische Vielfalt zu schätzen. Gewohnt an Dunkelrot, schreckte ich vor Lila und Grün zurück. Was für ein reflexbestimmtes Tier ich doch gewesen war! Nun bin ich Mensch geworden, meine Reflexe sind schwach, an ihre Stelle tritt die Wahl. Die geschärften Sinne stehen mir als Berater zur Seite, und der Verstand lernt in der Kühle, was seine Bestimmung ist. Dort, irgendwo zwischen den Welten, ist ein Platz für mich. Er wurde nicht für mich reserviert, ich habe ihn mir errungen.
    Ich bin nicht mehr ständig wütend und traurig, sondern praktisch, eine Sammlerin, durchmische das Alte mit allerlei Neuem, Wrackreste und zusammengesuchte Teile, und werde nie mehr aufhören, an meiner waghalsigen Konstruktion zu basteln, die mal einstürzt, mal sich bewährt.
    Rauchende Gefühle aus Braunkohlekombinaten kopple ich an eine saubere, ökologisch abbaubare Intellektualität, arbeite locker und mit antrainierter Präzision, und langsam bekommt mein Gefährt eine harmonische, aerodynamische Form. Mal bediene ich diesen Hebel, mal den anderen und fahre, fahre, immer weiter und komme überall pünktlich an. Und dankbar. Weder meine Voraussicht noch der praktische Verstand noch die Dankbarkeit bedrohen meine offene Identität.
    Das Rehabilitationszentrum ist ein weiter Bau aus Glas und Holz. Der Boden des Vorhofes ist aus Brettern gezimmert, wie vor einem Wochenendhaus am Sandstrand. In der Eingangshalle ranken sich zierliche Pflanzen hoch. Aber der Mensch ist keine ranke Vertikale. Der luftige Bau lädt zum Abheben ein, doch die, für die er gebaut wurde, können das Angebot nicht wahrnehmen. Ihre Körper sind schwer, sie fahren im Rollstuhl. Im ersten Stock unter dem flachen Dach ist der Mensch eine Horizontale. Hier liegen die Hirnverletzten im Wachkoma.
    »Gestern hat er die Faust gemacht«, berichtet die Mutter des Achtundzwanzigjährigen aufgeregt.
    Sie ist zusammen mit ihrer Schwiegertochter einen Tag und eine Nacht mit dem Bus gefahren. Mit verweinten Augen sitzen sie da, Arbeiterinnen, gewohnt zu sparen und zu schuften, ihr Leben – und das der Kinder – ohne Mann zu meistern.
    »Es ist bloß ein Reflex, aber wir werden uns bemühen, dass daraus Sprache wird«, sagt die Ärztin.
    »Gestern schrie er. Ist das Sprache?«
    »Das sind unartikulierte Laute, die Muskeln der Stimmbänder funktionieren nicht richtig, aber daraus kann Sprache entstehen. Wir müssen ihm zuhören und die Laute einordnen.«
    »Wie wird die Zukunft sein?«, fragt die Ehefrau des Lastwagenfahrers. »Unser gemeinsames Kind ist erst ein Jahr alt.«
    »Er wird seinen Beruf nicht mehr ausüben können, er wird nie mehr derselbe sein wie vor dem Zusammenprall. Aber junge Männer behalten trotz schwerer Verletzungen ihre Vitalität. Darauf zählen wir. Und auf Sie, Ihre Anwesenheit, die Muttersprache.«
    Die Ehefrau hält ihre Hände offen, aus denen die Hoffnung entflogen ist. Als er den Fahrerjob im fremden Land bekam, machten sie Pläne und Schulden. Sie möchte bei ihm sein, ihn pflegen.
    Der Versicherungsbeamte spricht lange vom Geld. Die Frauen hören interessiert zu – und beschämt. Es gehört sich nicht, das Unglück in Summen offenzulegen. Doch sie fürchten, die monatlichen Überweisungen könnten versiegen. Die junge Frau denkt zukunftsgerichtet. Eine Versicherung auf Glück hat sie nie gehabt. Früh hat sie gelernt, Ungewissheiten zu ertragen. Nach dem Regimewechsel kamen die Freiheit und die Not. Die Grenzen öff neten sich, die Maschinenfabrik in ihrer Stadt hat dichtgemacht.
    Wer wie diese beiden Frauen die eigenen Gedanken und Gefühle gezähmt hat, erspart mir beim Dolmetschen die Arbeit, Ordnung zu schaffen.
    Der Hirnverletzte steht, gestützt von um die Hüften geschnallten Bändern. Das Aufrechtsein flößt Respekt ein. Dann löst der Physiotherapeut die Bänder, lässt vorsichtig den Kopf los, und der Patient sackt in sich zusammen, ist wieder eine wehrlose Körpermasse auf dem Rollstuhl. Einmal pro Woche wird der junge Mann für eine Viertelstunde aufgerichtet. Er soll das Ziel erahnen, das nie erreicht wird, und jene Vergangenheit spüren, die einst selbstverständlich war.
    »Wie lange
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