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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde
Autoren: Irena Brezna
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ich ihr ins Jugendheim: »Liebe Mara, es ist ungerecht, dass du den Ausverkauf nicht sehen kannst. Die Miniröcke haben rote Preisschilder wie blutig verweinte Augen.«
    Mara kehrte nicht nach drei Jahren zurück, sondern nach drei Wochen. Die Gerichte hatten Strafausverkauf.
    Die Leiterin des Dolmetscherdienstes ermahnt das internationale Heer sprachlicher Stundenlöhner:
    »Nur vermitteln, nicht eingreifen.«
    Sie hängt nicht in der Kontinentalspalte, kennt nicht das Krachen, wenn Kulturen aufeinanderstoßen. Vor jedem Einsatz bläue ich mir ein: Pass auf dich auf, lass die Ufer Ufer sein, biete dich nicht als Brücke an, die stets zu Diensten steht, sonst trampelt man auf dir herum und bringt dich zum Einsturz. Sei eine Sprachfähre. Führe die Passagiere hinüber, lege ab und lösche ihre Gesichter aus dem Gedächtnis.
    Etwas von beiden Ufern bleibt trotzdem an der Fährfrau kleben. Ich dolmetsche aus drei Sprachen. Bekomme ich einen Auftrag, setze ich mich aufs Fahrrad und rätsle zum Surren der Räder, aus welchem Land wohl meine heutigen Passagiere sein werden. Ich mag den Augenblick, wenn der Mensch vor mir steht und die Sprache sich offenbart. Oft errate ich die Sprache ein paar Sekunden davor. Ich sehe an der Beschaffenheit des Mundes, von welchen Lautkombinationen er geformt worden ist. Dann grüße ich den Menschen, und im Gruß ist die Sprache mitgemeint. Sprachen sind Wesen. Sie leben unter uns, lungern herum oder tänzeln, rattern, stocken, säuseln. Wir nähren und kleiden die Sprachen ein, sodass sie satt oder schäbig werden, unterernährt oder schick gekleidet. Wenn ich Kopfweh habe, bin ich hellhörig auf Laute. Eine gereizte, schrille Stimme schneidet mein Gehirn entzwei, ich kneife vor Schmerz die Augen zusammen. Ist die Sprache geschmeidig, bade ich darin und genese.
    Die Schwangere und ihr Mann sitzen im Wartezimmer der Frauenklinik, und ich erkenne das Paar an seiner Verlorenheit. Mit einem breiten Lächeln gehe ich auf die beiden zu, doch ihre Gesichter zeigen sofort Anspannung. Dort, woher sie kommen, ist das Lächeln im öffentlichen Raum verdächtig. Wer lächelt, der will etwas. Als die Frau auf dem gynäkologischen Stuhl liegt, und die Krankenschwester mit einem Gerät schwarze Bänder um ihren Bauch herum befestigt, ist sie gefesselt an ihren Zustand. Tagelang kann ich die Schwangere nicht vergessen, sehe sie vor mir, bei allem, was ich tue, sorge mich, ob sie mitten in den Wehen das Wort »Pressen« verstehen wird. Ich versuche mich zu beruhigen: Aber ja, wenn die Hebamme barsch: »Pressen Sie!«, rufen wird, wird es die Gebärende an der Heftigkeit des Rufes erkennen. Da höre ich einen Schrei, und der spitze Bauch sackt in sich zusammen. In dem Moment klingelt das Telefon. Ich soll sofort in den Gebärsaal kommen.
    Die Hebamme ruft:
    »Der Muttermund ist schon acht Zentimeter weit offen«, und schickt mich hinaus.
    Vor der dicken Tür im Gang fragt die Ärztin hastig den Ehemann aus:
    »Missbildungen, Zwillinge, Drillinge in der Familie?«
    »Nein.«
    »Diabetes? Herzprobleme?«
    »Nein, nein.«
    Nimmt sie Drogen? Wie steht es mit Alkohol? Raucht sie? Ist sie depressiv?
    »Sie ist gesund«, ruft er laut.
    Ich habe ein Blackout und verstumme. Der sich öffnende Muttermund hat mir die Sprache verschlagen. In kurzen Abständen dringen Schreie zu uns, wie die einer Eule. Auf einmal wird es still, dann hört man leises Wimmern.
    Ich falle dem Mann um den Hals:
    »Sie hat es geschafft!«
    Er hebt die Arme zum Himmel:
    »Möge Gott Ihnen alle Wünsche erfüllen!«
    Er kramt eine Wassermelone aus seinem Rucksack und gibt sie mir. Sein Gesicht ist ein leuchtender Lampion, die Backen treten hervor, als füllte sie jemand mit Lachgas, sie dehnen sich nun anstelle des Bauches in den Sommernachmittag hinaus. Auf einem Gestell im Gebärsaal verdickt sich die Plazenta zu schwarz-roten Hügeln, die junge Mutter liegt nackt und still da, ihr Bauch ist weit, der Kopf zur Seite geneigt. Das Neugeborene öffnet die Augen.
    Ich entlasse alle Sprachen und zu Hause esse ich die Wassermelone auf.
    Wir waren in eine vorrevolutionäre Vergangenheit geraten. Die Slogans an den Mauern riefen nicht dazu auf, die Gesellschaftsschichten abzuschaffen, sondern sie luden ein, sich auf eine Matratze mit mehreren Schaumschichten zu legen. Der seriös wirkende Mann, der auf einem Plakat versprach: »Wir sorgen für Sie«, verriet nicht, dass seine Fürsorge gekauft werden musste. Eine lächelnde Hausfrau zwang uns
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