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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde
Autoren: Irena Brezna
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Verwandten. Doch einmal, als sie im dritten Monat schwanger war, erwischten sie ihn, und nach fünf Tagen ließen sie ihn für den Gegenwert von zehn Schafen frei. Was sie mit ihm in ihren Folterkammern anstellten, das weiß sie nicht. Danach war er ein anderer. Er wollte nur noch weg.
    Nachts überquerten sie mit Schleppern Grenzen, an Infrarotkameras vorbei. Die Angst drehte sich in ihrem Bauch, und der Fötus drückte sich gegen die Bauchwand. Im Flüchtlingsheim brach die Schwangere zusammen. Nachts im leeren Spitalzimmer mitten in der großen Fremde zu liegen war, als wäre sie alleine im Weltall. Der Blutdruck schnellte hoch bis zu den Sternen. Die Zeit der Niederkunft war noch nicht gekommen, aber die Ärzte sagten, das Kind müsse von dem Druck befreit werden.
    Der Mann trifft sich mit Landsleuten, politisiert, besucht den Sprachkurs. Sie bleibt mit dem Kind im Zimmer. Es ist heiß und feucht darin, auch tagsüber lässt sie die Jalousien halb herunter. Sie hat nie geschrien, auch nicht unter den Bomben. Es gehört sich nicht, die Fassung zu verlieren. Ihre Tochter trägt die unterdrückten mütterlichen Schreie in die Welt, stößt Laute heraus, aber keine Worte. Die Mutter ist verstummt, sie denkt an das zurückgelassene Land, ihre Gedanken fließen dorthin wie aus einem Leck. Die Tochter vermag die Welt nicht als die Weite zu sehen, sie wurde in der Enge der Angst ausgetragen. Sie hat einen engen Blick auf die Welt.
    »Eine autistische Störung«, teilt die Neurologin Wochen später die Diagnose mit.
    Die Augen des Vaters werden mattgelb und starr, der Hals verschwindet im Rumpf, die Arme erschlaffen. Schweiß rinnt von seiner Stirn, von den behaarten Unterarmen. Der Kopf weiß nicht, was »Autismus« bedeutet, doch der Körper begreift es und stellt sich tot. Dann rinnen Worte aus ihm heraus. Das neue Unglück erinnert ihn an das alte, daran, wie man ihn holte, mit einem Sack, gefüllt mit Sand, auf seinen Kopf einschlug, bis er unterschrieb, dass er jede Anweisung ausführen, auch töten würde. Er ergab sich, ging in dieselbe Starre wie jetzt. Auf einem Auge ist er erblindet, und im Kopf dröhnt es ständig. Auch die Angst ist noch da. Er fühlt sich vom Leben bestraft, ist nicht mehr zu bremsen, schimpft über die Zweizimmerwohnung an einer stark befahrenen Straße, auf das Fürsorgeamt, das ihn drängt, sich eine Arbeit zu suchen.
    »Ich habe nichts gelernt, es war Krieg. Und die hiesige Sprache geht mir nicht in den Kopf.«
    Die Tochter schlägt mit einem Holzklotz auf den Boden, gerät in Rage, schneidet Grimassen, knirscht mit den Zähnen. Mich sieht sie nicht, ich bin ein großer Klotz, den kann ihr Gehirn nicht aufnehmen. Sie ist selektiv und ausdauernd, besessen erforscht sie Details und wird sich nie an der Blütenpracht des Frühlings erfreuen.
    »Sie gehorcht nicht. Haben wir sie etwa verwöhnt?«, seufzt die Mutter und fügt hinzu, aus Angst, sie könnten als schlechte Eltern gelten, die ihre Pflicht versäumen:
    »Wir sind streng, wir schlagen sie. Das beruhigt sie.«
    »Weil es Körpersprache ist«, erklärt die Ärztin.
    »Der Kinderarzt ist schuld. Ich fragte ihn doch, ob ich zu wenig Milch habe. Er winkte ab. Dabei schrie meine Tochter vor Hunger.«
    Die Ärztin sagt ruhig:
    »Der Autismus kommt nicht vom Hunger.«
    Der Vater widerspricht:
    »Ich weiß, was Hunger ist. Vom Hunger wird man nicht klug.«
    Im Nachkriegsland kommen viele Kinder mit Missbildungen zur Welt. Sie werden schnell in Kübeln entsorgt, und jene mit Downsyndrom versteckt man in den Häusern. So viele Anomalien auf einmal. Kollateralschäden. Ein behindertes Kind verletzt die Familienehre. Es verletzt aber mitnichten die Ehre der Täter.
    Die Mutter hebt ihre Tochter hoch:
    »In den Konferenzsälen sollst du schreien, das ist der Ort dafür.«
    Wir bezogen eine Neubauwohnung am Stadtrand. Die Eltern bekamen Arbeit im zwölften Stock einer Firma, die chemische Farbstoffe herstellte. Mutter war stolz, dass die Welt dank ihr farbiger wurde. Vom ersten Gehalt ging sie mit mir Möbel kaufen. Im Keller eines Einfamilienhauses zeigte uns der Hausherr gediegene Trödelware und nannte Preise, worauf Mutter den Kopf schüttelte und mit der Zunge schnalzte. Je aufmerksamer er uns anschaute, umso trauriger wurde er. Als könnte er davon fröhlicher werden, senkte er die Preise. Er senkte sie so sehr, dass Mutter nur noch nickte. Dieser Mann schämte sich vor uns seines Häuschens und des Friedens, in dem er lebte, schämte sich
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