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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde
Autoren: Irena Brezna
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wird er leben?«
    »Jahrzehnte wohl. Er hat ein junges, gesundes Herz.«
    Die Mutter wendet ihr aschgraues Gesicht ab. Es ist ausgesprochen. Die Physiotherapeutin streckt vorsichtig die verspannten Arme des Patienten, rasiert ihn, putzt ihm die Zähne, ruft ihn beim Namen. Sie sagt, sie habe ihn gerne, weil er neugierig sei. Das klingt merkwürdig. Aber in ihrem Alltag geht es um Millimeter. Die Mutter denkt noch an das verlorene Ganze. Die Therapeutin kennt nur das Zerschellte und achtet darauf, wo sich ein zerbrochener Teil für einen Sekundenbruchteil regt. Die Meisterin der großen Lehre der winzigsten Schritte. Die Mutter tritt langsam an die Schwelle der harten Schule.
    Im Hof meiner Kindheit war ich Anführerin einer Bande, die auf die Straße hinausging, um gute Taten zu vollbringen. Kaum jemand nahm uns ernst, doch wir nahmen uns ernst. Der Hof hatte heimlich in mir weitergelebt, als Lebensentwurf, bis er endlich, weit vom Ursprung, seine Form gefunden hat. Eines Abends hielt neben mir ein kleiner Bus. An seiner Tür hing ein Plakat, auf dem ein Mensch bis zum Hals von Seilen eingeschnürt war, und seinen zum Schrei geöffneten Mund hatte man zugestopft. Ich betrat den Bus, in dem ein Video über Folterungen in einer fernen Diktatur gezeigt wurde, und junge Frauen und Männer in meinem Alter sammelten Unterschriften. Anziehend wirkten sie auf mich, frei, sie schauten sich den Schatten der Welt an und nahmen sich das Recht auf Widerstand. Ich wurde eine von ihnen, ging aus der Trauer hinaus und betrat die Welt.
    Wo ich hinkomme, suche ich Hinterhöfe und finde Hofkinder, Landsleute in Geist und Tat. Die feinen und festen Fäden, mit denen ich mich mit verschiedenen Gruppen verbinde, sind der Hinterhof, in dem unsere Bande gute Taten vollbringen will. Auch wenn wir von den Mächtigen nicht ernst genommen werden, wir selbst nehmen uns ernst. Und immer wieder schließt sich einer von vielen Kreisen, und ich weiß abermals – der Fluch des Exils kann gebannt werden. Es ist möglich, aus großen Verlusten mobile Höfe zu erschaffen.
    Schicht um Schicht lagern sich in meiner Persönlichkeit die kulturellen Erfahrungen ab. Sie lagern dort nicht nur, sie halten Zwiesprache untereinander, und ich wage zu behaupten: Sie bilden inzwischen ein luftiges und daher widerstandsfähiges Fundament. Und oben ist ein leerer Platz, den halte ich staubfrei. Die Blutsbande habe ich hinter mir gelassen, aber nicht den Begriff der Verwandtschaft. Er weitet sich ständig, mit jeder Transformation. Die Kleidung wechselt, das Gemeinschaftsgefühl soll mir erhalten bleiben. Aus transformativem Handeln, nicht bloß aus dem Gefallen an einer neuen Kultur erwächst Identität. Und nicht jedes Wolfsrudel ist auch meines.
    In einer Stadt traf ich Bäuerinnen, die von der Soldateska aus ihren Dörfern vertrieben worden waren. Internationale Organisationen hatten ihnen getragene Kleider geschenkt. Die Bäuerinnen erzählten von ihrer Verletzung durch diese Geste des müden Wohlwollens. Sie hatten ihre Häuser verloren und sollten auch die ureigene weibliche Haut einbüßen – ihre selbst genähten, farbigen, traditionellen Kleider. Sie wollten die fremde Identität in Wut wegwerfen, doch dann zerschnitten sie diese in Streifen, in Vierecke, in Dreiecke und nähten die Stücke aus Wolle, Seide, Baumwolle, Spitze aneinander zu großen farbigen Decken, in die sie sich einhüllten. Die Wärme des selbst erschaffenen Patchworks konnten sie annehmen, darunter bewahrten sie sich auf der Flucht. Die stolzen Bäuerinnen zeigten mir, wie eine neue Identität sein kann. Sie schenkt Geborgenheit, liegt aber nicht direkt auf der Haut. Sie muss zuerst zerschnitten und dann von uns selbst neu zusammengenäht werden. Das gemeinsame Schneidern, eine archaische weibliche Tätigkeit, identitätsstiftend. Dort, wo die Welt zusammenwächst, wo Gemeinschaften den bunten Überwurf weiterspinnen, flechte ich meine Fäden hinein.
    Ich schärfe den Blick für die Weite, drehe das Leiden am Fremdsein um und fordere mein Recht auf Fremdheit, stilisiere die Fremdheit zur Seinsform, denke mich stets neu, werde heimisch darin. In den Zügen geselle ich mich zu Menschen aus verschiedenen Kulturen. Wir bilden dann eine ganze Familie. Und es scheint mir, als sei der dumpf ratternde Zug eine Nähmaschine, die die zerrissene Welt zusammennäht.
    Jahre sind vergangen, seit ich damals im Dunkeln an das Flussufer dieses Landes gespült worden war. Ich werde älter und das Land
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