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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Vergebung, die kein Priester spenden kann. Du magst dich gewundert haben, warum ich keinen Geistlichen rufen ließ, als ich mein nahendes Ende spürte – nun wirst du den Grund verstehen.
    Vergebung könnte ich nur von deiner Mutter erlangen, und nun, da sie fort ist, von dir. Um diese Vergebung bitte ich dich und schwöre dir bei allem, was die Menschen Gott nennen, dass ich deine Mutter wahrhaft geliebt habe und noch lieben werde, wenn ich in Kürze meinen letzten Atemzug tue. Vergib mir und glaube, dass ich die Strafe für meine Sünde bereits erlitten habe, indem ich mein Leben ohne sie leben musste.
    Wann immer ich einen Wald betrete und die Wipfel rauschen höre, denke ich an Svetlana, und meine Seele ruft im Stillen nach ihr. Wann immer sich der Mond in einem nächtlichen See spiegelt, ist es ihr Gesicht, das auf den Wellen spielt. Und wann immer ich ein schwarzhaariges Mädchen sehe, bleibe ich stehen, immer gewärtig, dass sie sich zu mir umwenden und zwischen ihren Locken ein blasses Gesicht mit tiefbraunen Augen erscheinen könnte.
    Lana, wohin bist du gegangen? Nichts lebt von dir als die Erinnerung, ein Spiel bleicher Schemen und Schatten in meinem Geist.
    Und doch möchte ich glauben, dass sie noch immer da ist, noch immer auf dieser Erde wandelt, jung wie damals: mit nackten Füßen durch tauiges Gras huschend, aufmerkend beim Gesang einer Amsel, die Augen zum Himmel blitzend beim Steigen des Abendsterns, die weiße Stirn gekraust beim Erzählen fremdartiger Geschichten. Ich möchte glauben, dass Lana da ist, wo immer ein stiller See ruht, ein Eichenwald steht, ein Weg ins Moor hinabführt. Aus allen Wundern Gottes auf Erden leuchtet mir ihr Gesicht, jeder Wind aus dem Osten spricht mit ihrer Stimme, und alles Wasser, das die Elbe hinabrauscht, raunt den Reim zu ihren Liedern. Ja, ich möchte glauben, dass ihr Geist auf einer Waldlichtung tanzt wie die Vila, mit durchsichtigem Leib und schwingenden Gliedern aus treibendem Dunst, vom Mondlicht durchglüht. Oder dass sie sich den Wasserjungfrauen beigesellt hat, den Geistern der Flüsse, geboren aus Tau, reitend auf einem Wels, fähig, sich in Schwäne zu verwandeln oder in stehendes Schilf. Oder dass sie auf dem Wolkenwagen mitreist, dessen geflügelte Pferde durch den Himmel dahinjagen. Ich möchte glauben, dass sie die Diva ist, das heilige Mädchen des Waldes, von dem die Wenden sprechen. Und ich möchte glauben, dass sie auch die freundliche Todesbotin ist, das weißgekleidete Mädchen, das für jeden Lebenden eine Kerze hütet und am Bett eines Kranken erscheint. Steht sie am Fußende des Bettes, so heißt es, wird der Kranke genesen; steht sie am Kopfende, naht sein Tod.
    Ich fühle den meinen nahen.
    Ich wende das Gesicht und sehe ins Dunkel, in den tiefen Schatten hinter meinem Bett – und ich sehe sie dort stehen, ganz nahe bei meinem Kopf, eine Kerze in den schmalen Händen, reglos, doch lächelnd, lächelnd wie damals. Sie ist es, die mich heimholt; es ist Lana, meine Lana. Sie ist es, die mich führt, wohin immer Gott die Seelen der Verstorbenen befiehlt. Sie ist wieder bei mir, sie holt mich heim, zurück zur Erde, zurück zu ihr; Asche zu Asche, Staub zum Staube.
    Lana!
    Ein Leben lang habe ich nach dir gerufen, und endlich bist du gekommen.
    Dona mihi requiem .

Nachwort des Autors
    Natürlich: Odo von Reppenstede ist eine fiktive Person, und auch sein Manuskript habe ich erfunden. Tatsächlich gab es nahe dem heutigen Ort Reppenstedt wenige Kilometer westlich von Lüneburg einst einen befestigten Herrensitz namens „Uhlenburg“, doch wissen wir nichts Genaueres über seine Bewohner. Die Familie von Reppenstede, die in einigen alten Dokumenten erwähnt wird, starb noch im Verlauf des Mittelalters aus. (Vgl. Dietmar Gehrke, Reppenstedt: Aus 800 Jahren Geschichte eines Ortes , in: Veröffentlichungen des Archivs der Samtgemeinde Gellersen , o.J., S. 8–15. Ferner: Lutz Tetau, Reppenstedter Burgen und Türme , Veröffentlichungen des Archivs der Samtgemeinde Gellersen 2003.)
    Nicht erfunden hingegen ist der Kreuzzug gegen die Wenden, der zu den am wenigsten bekannten Ereignissen der deutschen Geschichte gehört.
    Als der deutsche König Konrad im Frühjahr 1147 zum Kreuzzug in den Orient aufbrach, schlugen mehrere sächsische Landesfürsten einen gleichzeitigen Zug in die Länder östlich der Elbe vor, die zu jener Zeit von slawischen Stämmen bewohnt wurden. Warum sollten sie nach Palästina ziehen, wo es doch ein heidnisches Volk in
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