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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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sterben.
    Dies alles erfuhr ich von dir über Jahre hinweg durch geduldige Nachfragen, und manches musste ich erraten, da du nicht darüber sprechen wolltest. Mein Schmerz – das glaube mir – war ebenso groß wie deiner, erfuhr ich doch aus deinen Worten, dass Svetlana, meine Geliebte, endgültig verschwunden und unerreichbar war. Während du jedoch von ihrem Tod überzeugt bist, habe ich Zweifel, denn ich kannte sie und weiß, dass weder Fesseln noch die Grausamkeit der Dänen ihren Willen zu brechen vermochten. Manchmal male ich mir aus, sie sei erneut entkommen, in die Wildnis geflohen und lebe irgendwo im Verborgenen, vielleicht an der wendischen Küste, vielleicht weit im Osten: eine kleine Frau in mittleren Jahren, von zierlicher Gestalt und mit schlohweißem Lockenhaar.

Epilog
    Ich komme zum Ende, zum Abschluss meines Berichts wie meines Lebens. Seit dreizehn Jahren, mein Sohn, lebst du nun auf meinem kleinen Landgut und bist ein reifer Mann, während ich das fünfzigste Lebensjahr überschritten habe, krank und schwächlich geworden bin und den Tod nahen fühle. Du wirst fragen, warum ich dir nie eröffnet habe, dass du mein Sohn bist. Ich gestehe es offen: Ich fürchtete deinen Zorn. Stets hast du geglaubt, deiner Mutter sei Gewalt angetan worden, und du hast geschworen, deinen Vater zu töten. Die Wahrheit konnte ich dir nicht eröffnen – denn wie du nun siehst, füllt sie Hunderte von Pergamentblättern, und du würdest mir nicht lange genug zugehört haben, wenn ich je den Versuch unternommen hätte, sie dir zu erzählen.
    In mancher Hinsicht verdiene ich deinen Hass, denn ich musste dir weh tun: Ich entriss dich deiner Heimat; ich musste dich taufen lassen und im christlichen Glauben erziehen – nicht aus Überzeugung, sondern zu deinem Schutz. Selbst deinen wendischen Namen, Vitomir , musste ich in Vitus ändern lassen. In jeder anderen Hinsicht aber habe ich versucht, dich wie meinen Sohn zu behandeln, und das kann dir nicht entgangen sein. Dem Stande nach warst du mein Hausknecht, doch nie verlangte ich irgendeinen Dienst von dir, sondern ließ dir das Bett in meiner Kammer richten und das Essen an meinem Tisch auftragen. Ich brachte dir die deutsche Sprache bei; ich lehrte dich reiten und das Schwert gebrauchen; ich unterrichtete dich im Lesen und in der Buchführung. Ich war allzeit freundlich zu dir, und vielleicht spürtest du, dass ich dich liebte, und vergaltest es mir nur umso grausamer. Geduldig ertrug ich deine Vorwürfe und die Ausbrüche deines Zorns. Du nanntest mich einen Christenhund, Mordbrenner und Entführer wehrloser Jünglinge, und ich widersprach nicht. Vielleicht ahntest du sogar, dass ich ein Geheimnis hütete, denn gewöhnlich hätte kein Knecht in solcher Weise straflos zu seinem Herrn sprechen können.
    Mit den Jahren wurdest du milder und ruhiger, lerntest, meine Liebe zu ertragen, und straftest sie weniger mit Zorn als mit Gleichgültigkeit. Allmählich kamen Momente, in denen du mir Zugang zu deinem Herzen gewährtest, und ein scheues Vertrauen erwuchs zwischen uns. Heute, so hoffe ich, bist du so weit, dass du meine Geschichte anhören und mir vergeben kannst.
    Ich habe lange auf diesen Moment gewartet und im Stillen meine Vorbereitungen getroffen. Dazu gehörte auch, dass ich dich lesen lehrte, so dass du nun dieses Manuskript studieren und die Wahrheit über mich und deine Mutter erfahren kannst. Dir gegenüber schob ich andere Gründe vor, und sie waren nicht geheuchelt: Indem du nämlich Lesen und Schreiben lerntest, konnte ich dich zu meinem Gehilfen in der Buchführung heranbilden, und zu Beginn dieses Jahres habe ich dich zu meinem Verwalter eingesetzt. So kann ich dir nun auch offenbaren, dass ich vor wenigen Tagen einen Brief an Herzog Heinrich gesandt habe, in dem ich ihn bitte, dich nach meinem Tod als meinen Nachfolger einzusetzen. Wenn alles nach meinem Wunsch geschieht, wirst du, mein Sohn, in Kürze Gutsherr von Reppenstede sein und über ein lebenslanges Auskommen verfügen. Dies ist das Mindeste, was ich für dich tun kann, und ich tue es gern.
    Und so schließe ich meinen Bericht in der Hoffnung, dass du dich nun mit mir und deinem Schicksal aussöhnen kannst. Es ist wahr, dass ich mich an deiner Mutter versündigte – doch anders, als du glaubst. Meine Sünde bestand darin, dass ich nicht entschlossen genug der Liebe folgte, als sie mich rief. Vielleicht ist dies überhaupt die einzige Sünde, die wirklich der Vergebung bedarf, und zwar einer
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