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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Greuel ist. Ich fürchtete mich – vor dir, mein Sohn.
    Was wäre geschehen, wenn ich dir die Wahrheit schon früher eröffnet hätte? Hättest du mich nicht hassen müssen, weil ich dich deiner Heimat entriss und fortführte in dieses Land, dessen Glaube und Sitten dir fremd sind? Hättest du nicht annehmen müssen, der Sachse habe sich deiner Mutter kraft derselben rohen Gewalt bemächtigt, die das Land deiner Vorfahren heimsuchte, ihre Dörfer verwüstete, ihre Heiligtümer niederbrannte und ihre Kinder unter das Kreuz zwang? Ich gestehe es frei: Ich fürchtete deinen Zorn.
    Nun aber ist die Zeit gekommen, da ich mich deinem Urteil aussetzen muss. Du magst mich einen Feigling schelten, weil ich das Nahen meines Todes abgewartet habe. Doch urteile nicht zu hart über mich: Auch die Größten und Tapfersten bekannten manches erst auf dem Sterbebett, und wer weiß, welche Geheimnisse selbst Bischöfe und Kardinäle ihren Beichtvätern in jener Stunde anvertrauen. Lies, mein Sohn, doch verdamme mich nicht, bevor du die letzten Seiten dieses Manuskripts erreicht hast und verstehst, welche Kräfte mich einst in meiner Jugend bewegten und auf welche Weise mein Schicksal in die Geschichte meiner Zeit verflochten wurde.

Wie ich aus meiner Heimat vertrieben wurde
    Ich beginne mit meiner Erzählung im Jahr des Herrn 1138.
    Es war der Morgen eines schönen Tages im September. Die Sonne schien, und ich, ein junger Bursche von elf Jahren, war früh aufgestanden, um mich um Haus und Hof zu kümmern. Unser Dorf, das zu den Besitzungen des Grafen von Blankenburg gehörte, war klein und hatte, soweit ich mich erinnern kann, nicht einmal einen Namen. Es umfasste neun Hufen, wie hierzulande die Hofstellen der Hörigen genannt werden. Die Hütten aus geflochtenem Astwerk, mit Lehm verkleidet und mit Binsen gedeckt, duckten sich in den Schatten eines Höhenzuges, der zu den nördlichsten Ausläufern des Harzgebirges gehörte. Auch meine Familie besaß eine solche Hütte, und obwohl sie nur einen einzigen fensterlosen Raum umschloss, kam sie mir doch allzu groß vor, seit meine Mutter und mein Bruder gestorben waren.
    Nachdem ich aufgestanden war, versorgte ich als Erstes meinen Vater, der fiebernd auf seinem Strohlager ruhte. Seit dem vergangenen Winter war seine Gesundheit ernstlich angegriffen: Anhaltende Schwäche und Gelenkschmerzen plagten ihn, und mittlerweile hatte sich ein trockener Husten zu den übrigen Plagen gesellt. Ich gab ihm Wasser und versprach, auch Ziegenmilch zu bringen, sobald ich die Schweine in den Wald geführt und Zeit zum Melken haben würde.
    „Habt keine Sorge, Herr Vater“, sagte ich, legte die Hand auf seine Stirn und bemühte mich, kein Erschrecken angesichts der Hitze seiner Haut zu zeigen. „Ich schaffe die Arbeit schon allein.“
    In der Tat bewirtschaftete ich den Hof seit Monaten, wenn auch mehr schlecht als recht, mit der Kraft meiner eigenen jungen Hände. Im Mai hatte ich in mühevoller Arbeit mit unserer einzigen Kuh den Acker gepflügt, im Juli das Heu eingebracht, im August das Getreide geerntet. Wir hatten nur wenig zu essen, und oft blieb mir nichts anderes übrig, als zum Mittagsmahl eine Schüssel Getreidebrei mit Milch anzurühren. Es war mir klar, dass wir in diesem Jahr kaum in der Lage sein würden, unserem Grundherrn die Steuer zu entrichten, denn es gab so gut wie nichts, was wir zurücklegen konnten.
    Mein Vater seufzte, als habe er denselben Gedanken, zeigte jedoch ein schwaches Lächeln.
    „Mein großer Junge“, flüsterte er und unterbrach sich, als ein Hustenanfall seine nackte Brust schüttelte. Ich wartete geduldig und zugleich gerührt, denn nur selten hatte er in letzter Zeit das Wort an mich gerichtet. „Ich bin so froh, dass der Herrgott dich mir erhalten hat. Du bist ein guter Junge, Odo. Ich bete jeden Tag für dich.“
    Sosehr mich dieses Lob erfreute, fühlte ich doch Angst in mir aufsteigen, denn es klang wie ein Abschiedswort. Ergriffen nahm ich seine Hand, die rauh und trocken war, voller Falten und Schwielen von vierzig Jahren Feldarbeit.
    „Auch ich bete für Euch, Herr Vater“, sagte ich und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme wankte. „Und wenn Gott meine Gebete hört, wird er auch Euch erhalten.“
    Mein Vater seufzte, lehnte sich zurück und ließ seine Hand aus der meinen sinken. Bis heute frage ich mich, ob er an jenem Morgen ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen würde.
    „Denk daran, die Schweine in den Wald zu treiben“, flüsterte
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