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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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er mit veränderter Stimme.
    Ich nickte, griff nach der Weidengerte und ging zur Tür unseres Hauses.
    Draußen schien bereits die frühe Herbstsonne, so dass ich die Augen beschatten musste, als ich ins Freie trat. Rasch umrundete ich das Haus und ging auf den kleinen Stall zu, ein windschiefes Gerüst aus verwittertem Holz mit einem Gatter aus geflochtenem Astwerk. Die Schweine scharrten und grunzten bereits, denn sie wussten, welches Tagwerk ihnen anstand: In dem kleinen Wäldchen auf der Ostseite des Dorfes waren jüngst die Eicheln und Bucheckern gefallen, und die Schweine würden bis zum Abend zwischen den Bäumen umherstreifen und sich an den Leckerbissen mästen. Hinter ihnen stand Christa, unsere einzige Kuh, und warf bei meinem Anblick freudig den schweren Kopf in die Höhe. Auch sie erwartete ein angenehmer Tag, der in nichts anderem bestehen würde als dem ruhigen Abweiden des Klees auf unserem Brachfeld. Allein ich würde von früh bis spät zu arbeiten haben, und wie so oft ertappte ich mich dabei, meine vierbeinigen Hausgenossen zu beneiden: Das Heu musste gewendet werden und das Wintergetreide gesät, die Ziege musste gemolken werden und das Federvieh gefüttert, und wenn nach all dem noch Zeit blieb, war es gewiss klug, ein wenig Holz zu schlagen, um mit der Anlage eines Vorrats für den Winter zu beginnen.
    Seufzend ergriff ich das Gatter, als mich vom benachbarten Haus eine helle Stimme anrief.
    „Gott zum Gruß, Odo!“
    Ich wandte mich um und erblickte Gunde, die Frau unseres Nachbarn Hartmut, die hinter dem Gartenzaun stand und die herabgefallenen Früchte ihres Apfelbaums auflas.
    „Gott zum Gruß, Frau Nachbarin“, erwiderte ich höflich und konnte nicht umhin, innezuhalten und zu beobachten, wie sie sich nach den Äpfeln bückte. Ich war noch nicht in das Alter eingetreten, in welchem junge Burschen sich für Frauenspersonen begeistern, doch streifte mich beim Anblick Gundes zuweilen eine frühe Ahnung solcher Empfindungen. Hartmut, unser Nachbar, war ein reifer Mann von fünfunddreißig Jahren, seine Frau jedoch war mindestens zehn Jahre jünger und, obwohl sie bereits fünf Kinder geboren hatte, unverbraucht und von reizender Gestalt. Sie hatte nicht einmal einen Buckel, wie ihn fast jede Bäuerin mit der Zeit bekam, sondern hielt sich aufrecht und gerade wie eine Edelfrau. Oft fragte ich mich, ob auch meine Mutter eine so schöne Frau wie Gunde gewesen war, doch ich konnte mich nicht erinnern. Sie war bereits vor vielen Jahren bei der Geburt meines Bruders gestorben, der sie nur um wenige Tage überlebt hatte.
    Betreten schlug ich die Augen nieder, als Gunde meinen Blick bemerkte.
    „Ich bringe deinem Vater morgen einen Korb Äpfel hinüber“, rief Gunde. „Der Baum trägt dieses Jahr reichlich.“
    „Gott soll’s vergelten, Frau Nachbarin!“, antwortete ich.
    Gunde nickte mir zu, wandte sich ab und ging zum Haus zurück, in dessen Tür sich zwei ihrer Kinder drängten und lauthals nach den Äpfeln verlangten. Erneut blickte ich aufmerksam hinüber, und der Anblick erweckte eine seltsame Wehmut in mir. Wie gern hätte auch ich eine Schar von Geschwistern und eine liebende Mutter gehabt, einen Apfelbaum im Hof und ein Haus voller junger und gesunder Menschen – mir hatte Gott nur den Vater, die Tiere und die ständige Sorge um unsere kargen Vorräte gelassen.
    In diesem Moment mahnte mich das ungeduldige Scharren der Schweine an meine Pflichten. Seufzend öffnete ich das Gatter, woraufhin die Tiere eilig hinausstrebten und meine nackten Beine streiften.
    „Langsam!“, rief ich ärgerlich und schwang die Gerte. „Ihr werdet noch jemanden umrennen!“
    Und dies geschah auch beinahe, denn als die Schweine den Weg zur Dorflinde hinabschossen und in Richtung des Waldes bogen, kreuzten sie den Weg dreier Männer, die auf unser Haus zustrebten.
    Erschrocken erkannte ich den Gutsverwalter, einen korpulenten Mann in guter Kleidung aus grünem Tuch, begleitet von zweien seiner Hausknechte, die einen Karren zogen. Er kam früher als befürchtet – noch vor dem Matthäustag, und dies verhieß nichts Gutes. Nicht, dass sein Erscheinen im Dorf jemals irgendwelchen Anlass zur Freude gegeben hätte, denn Diederich, der sich von seinen Hörigen „Thiedericus“ nennen ließ, war ein hartherziger und allgemein gefürchteter Mann. Er residierte auf dem Herrenhof, einem stattlichen Haus auf einem nahe gelegenen Hügel, und sein Amt bestand darin, die abgelegene Besitzung zu verwalten und für
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