Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila
Autoren: Wolfgang Jaedtke
Vom Netzwerk:
seinen Herrn die Abgaben aus den umliegenden Dörfern einzuziehen.
    Entsprechend beklommen fühlte ich mich daher, als ich sah, wie er geradewegs auf unser Haus zuhielt. Zu allem Unglück kreuzten eben die Schweine seinen Weg und nötigten ihn, unter Vernachlässigung seiner herrschaftlichen Haltung mit einem unwilligen Keuchen zur Seite zu springen. Böse starrte er zu mir herüber, als hätte ich die Tiere absichtlich auf ihn und seine Begleiter losgelassen.
    „Heda, Junge!“, rief er. „Wo ist dein Vater?“
    Ich stand wie erstarrt, das Gatter des Schweinestalls in der Hand. Thiedericus trat näher – so nahe, wie der pflichtgemäße Abstand zwischen Grundherr und Hörigen es zuließ – und blickte auf mich herab.
    „Im Haus“, beantwortete ich recht verspätet die Frage.
    Thiedericus verzog den Mund. „Es ist helllichter Tag“, sagte er ungnädig. „Was tut dein Vater um diese Zeit im Haus? Warum ist er nicht bei der Arbeit auf dem Feld?“
    „Er ist noch immer krank“, brachte ich schüchtern vor.
    Thiedericus trat auf das Haus zu, blieb jedoch vor dem hüfthohen Weidenzaun stehen – dem Friedensbezirk, den selbst ein Edler ohne Einladung nicht betreten durfte. Er öffnete eben den Mund, um nach meinem Vater zu rufen, als dieser ihm zuvorkam und die Tür von innen aufschob. Offenbar hatte er gehört, wer ihn zu so früher Stunde aufzusuchen gedachte, und sich mühsam von seinem Lager erhoben. Leicht gebeugt stand er in der Tür, eine Hand gegen den Rahmen gestützt, und der Anblick seines erbärmlichen Zustands ließ mir das Herz schwer werden.
    „Gott zum Gruß, Herr“, sagte mein Vater, und den heiseren Worten folgte ein Anfall trockenen Hustens, der seine dürre Brust erschütterte und gewiss jeden guten Christenmenschen mit Mitleid erfüllt hätte. Nicht so Thiedericus: Ohne den Gruß zu erwidern, streckte er die Hand aus und ließ sich von einem seiner Knechte ein Pergament reichen, das mit Schriftzeichen bedeckt war.
    „Sasse Arnulf“, begann er förmlich – Arnulf war der Taufname meines Vaters. „Ich tue dir kund, dass unser gnädiger Herr, der Graf von Blankenburg, vom Markgrafen Albrecht mit Krieg bedroht wird und zur Verteidigung seines Landes eine Sonderabgabe erhebt. Er erbittet daher von jedem Hof die folgenden Gaben.“
    Thiedericus machte eine bedeutungsvolle Pause, und ich bemerkte, wie mein Vater sich in Erwartung des Kommenden straffte.
    „Fünf Pfennige von jeder Hufe mit mehr als einem Ochsen“, verlas Thiedericus, „und vier Pfennige von jeder Hufe, die nur einen Ochsen oder gar keinen besitzt.“
    Ich bemerkte, wie mein Vater seufzte und den Kopf sinken ließ. Wir besaßen überhaupt kein Geld, denn der schmale Umfang unserer jährlichen Ernte ließ es nicht zu, auch nur eine Weizengarbe auf dem Markt zu verkaufen.
    „Diejenigen, welche nicht über Münzgeld verfügen“, fuhr Thiedericus fort, „dürfen die Abgabe auf folgende Weise in rebus naturalibus leisten: fünf Hühner oder ersatzweise fünfzig Eier, dazu ein Schwein oder ersatzweise fünf Pfund Schweinefleisch, dazu fünf Klafter geschlagenes Holz und alles an Eisengerät, was im Haus vorhanden ist und sich zu Waffen umschmelzen lässt.“
    Thiedericus rollte sein Pergament zusammen, während mein Vater ergeben den Kopf senkte und den Besuchern zunickte. „Kommt herein.“
    Thiedericus blieb stehen, während die beiden Knechte ihren Karren abstellten und das Haus betraten. Mein Vater verharrte an der Tür, und ich empfand das starke Verlangen, zu ihm hinüberzulaufen und ihn zur Bettstatt zurückzuführen. Unglücklicherweise jedoch versperrte Thiedericus die Gartenpforte, und um nichts in der Welt hätte ich gewagt, ihn zum Wegtreten zu nötigen. So warteten wir einige Zeit reglos, jeder an seinem Platz, während aus dem Innern des Hauses dumpfes Gerumpel zu hören war. Am Ende erschienen die Knechte wieder in der Tür, wobei sie eine Sense und ein Beil mit sich trugen – die einzigen Geräte aus Eisen, die wir besaßen.
    „Ich bitte Euch, Herr“, flehte mein Vater, „lasst mir die Sense! Es ist mir sonst nicht möglich, im nächsten Jahr die Ernte einzubringen.“
    Thiedericus verzog den Mund, prüfte noch einmal den Wortlaut seines Dokuments und gab schließlich einem der Knechte ein Zeichen. „Die Sense mag er behalten.“
    Der Knecht stellte das langstielige Gerät ab und lehnte es gegen den Gartenzaun.
    „Was ist mit dem Holz?“, fragte Thiedericus streng.
    „Es ist keines da, Herr“,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher