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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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es sei nur das Scharren und Grunzen der Schweine, die sich irgendwo in der Nähe aufhalten mussten. Dann jedoch begriff ich, dass etwas Ungeahntes in der Ferne heraufzog, etwas, das wie der Ansturm einer Rinderherde klang und mich mit plötzlichem Entsetzen bannte. Unwillkürlich packte ich das Beil fester und umschloss den Griff mit beiden Händen, während ich gegen die Vormittagssonne blinzelte.
    Der Lärm schwoll an, und mit einem Mal erhoben sich dunkle Schatten auf den Hügeln und fluteten ins Tal, geradewegs auf das Dorf zu. Ich fühlte mein Herz heftig schlagen, als ich Fußknechte in ledernen Waffenröcken erkannte, Äxte und Streitpickel schwingend. Hinter ihnen tauchten Reiter auf, in voller Rüstung mit Schild und Kettenhemd.
    Im nächsten Moment stürzten die fünf Schweine an mir vorbei, die am Waldrand Eicheln aufgelesen hatten. Sie stoben quiekend und grunzend zum Dorf zurück, und ihre Flucht riss endlich auch mich aus meiner Erstarrung. Ich folgte ihnen und rannte um mein Leben. Inzwischen gewahrten auch die übrigen Dorfbewohner die Heimsuchung. Männer, die auf den Feldern arbeiteten, richteten sich erschrocken auf, ließen ihre Hacken sinken und beschatteten die Hände gegen die Sonne. Rinder und Ziegen auf der Weide scharrten, blökten erregt und warfen die Köpfe empor. Frauen kreischten und trieben ihre Kinder in die Häuser.
    „Feinde!“, schrie ich, als ich die Dorflinde erreichte, den Weg zum Haus meines Vaters einschlug und Gunde erblickte, die an ihrem Gartenzaun stand und mir entgegenstarrte. Der Korb mit den Äpfeln fiel ihr aus der Hand, und sie stürzte zur Haustür.
    Im nächsten Moment fühlte ich mich am Kragen gepackt, wirbelte herum und starrte in das verhasste Gesicht von Thiedericus, dessen Knechte eben damit beschäftigt waren, ihren Karren zum Nachbarhaus zu ziehen.
    „Was ist geschehen?“, herrschte mich der Verwalter an. „Warum bist du nicht im Wald?“
    „Herr!“, stieß ich hervor. „Feinde sind im Anmarsch! Bitte lasst mich zu meinem Vater!“
    Thiedericus starrte mir misstrauisch ins Gesicht, als wittere er eine Lüge. Erst, als er des Aufruhrs ringsum gewahr wurde, richtete er sich auf und blickte zum Wald hinüber. Ich strampelte und wehrte mich verzweifelt, doch noch immer hielt er mich am Kragen meines Kittels gepackt.
    Unterdessen hatten die fremden Krieger das kleine Waldstück durchquert und stürmten über die Felder auf das Dorf zu. Thiedericus erstarrte, und einstweilen gab ich jeden Versuch auf, mich ihm zu entwinden, denn der Anblick bannte mich mit Schrecken. Während mir das Herz laut in der Kehle pochte, beobachtete ich, wie die Fußknechte geradewegs auf einen Bauern zuhielten, der eben mit der Aussaat des Wintergetreides beschäftigt war. Er hatte sich aufgerichtet und die Heranstürmenden wie eine übernatürliche Erscheinung angestarrt, unfähig sowohl zur Flucht als auch zur Gegenwehr. Nun drangen sie auf ihn ein, und einer der Krieger schlug ihn mit dem Streitpickel zu Boden, ohne im Lauf innezuhalten. Der jüngste Sohn des Bauern hatte die Flucht ergriffen und rannte zum Dorfplatz, wurde jedoch von einem Ritter zu Fall gebracht, der ihm mit gezücktem Schwert nachsetzte und die Waffe auf seinen Kopf niederfahren ließ.
    Thiedericus regte sich erst, als der Ritter die Dorflinde umrundete und fast gemächlich auf uns zutrabte. Endlich ließ er mich los, und seine Hand fuhr zum Griff des Schwertes, das er unter dem laubgrünen Mantel trug.
    „Heda! Zu mir!“, schrie er den beiden Knechten zu, in deren Begleitung er ins Dorf gekommen war. Doch die jungen Männer, die keine Waffen trugen und den Ernst der Lage schneller begriffen als ihr Herr, hatten sich bereits zur Flucht gewandt.
    Thiedericus fluchte, zog sein Schwert und stellte sich mitten auf die Dorfstraße, dem herantrabenden Ritter in den Weg. Ich selbst, endlich frei, hätte nun fortlaufen und das Haus meines Vaters aufsuchen können. Doch der Anblick der beiden Gegner fesselte mich, so dass ich an den Gartenzaun unserer Nachbarn zurückwich, ohne den Blick abwenden zu können.
    Thiedericus stand hoch aufgerichtet da, ohne jedes Zeichen von Angst. Womöglich schien er zu glauben, seine bloße Erscheinung werde den Angreifer zurückweichen lassen. Sein berittener Gegner jedoch ließ sich von dieser selbstherrlichen Haltung nicht im Mindesten beeindrucken. Für einen Moment verlangsamte er den Schritt seines Pferdes, und die grauen Augen unter der Kettenhaube zogen sich abschätzend
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