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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen
Autoren: James Morrow
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Eine entschlüsselte
Traumkapsel

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    Als ich zehn Jahre alt war, rief mich mein Vater in sein
Arbeitszimmer und sagte in einem feierlichen Ton, der keineswegs
typisch für ihn war: »Mein Sohn, laß dir bloß
nie einreden, daß es sowas wie die Wirklichkeit nicht
gibt.« Er klopfte auf seinen Schreibtisch, wie um mir zu zeigen,
was er mit Wirklichkeit meinte. »Die Wirklichkeit ist alles, was
wir haben, Quinjin, und glaub mir, das ist mehr als genug.«
    »In Ordnung«, antwortete ich.
    Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.
    Mit der Zeit lernte ich den Rat meines Vaters jedoch zu
schätzen. Besonders nützlich war er mir in meinem
selbstgewählten Beruf als Traumkritiker.
    Die Schlingbäume gibt es jetzt schon seit über zwanzig
Jahren nicht mehr, und ich nehme an, die meisten von Ihnen sind zu
jung, um ihre Früchte gegessen und die programmierten
Halluzinationen, die vorgefertigten Fata Morganas erlebt zu haben,
die in ihnen gespeichert waren. Deshalb möchte ich Ihnen jetzt
versichern, daß alles, was Sie je über Zephäpfel
gehört haben, wahr ist. Verglichen mit einem guten
Zephapfeltraum war jede kulinarische Köstlichkeit etwa so
beglückend wie ein entzündeter Rachen und Sex so
bestrickend wie ein Zwinkern. Die Traumweber – jene begabten,
einsamen Seelen, die die Samen erzeugten, aus denen die
Schlingbäume sprossen – waren nämlich keine
bloßen Techniker, wissen Sie. Die Traumweber waren nicht nur
die Kanäle für die Handlung. Die Traumweber waren
Künstler. Große Künstler, gescheiterte Künstler,
reine Künstler, verderbte Künstler. Aber auf jeden Fall
Künstler.
    Nun, ich will nicht so tun, als ob sämtliche Zephäpfel,
die ich rezensiert habe, die Bezeichnung ›Kunstwerke‹
verdient hätten. Die meisten von ihnen konnte man in der Tat
eher als Schund bezeichnen. Andere Kritiker durften
realistische psychologische Träume über Liebe, Haß,
Heirat, Scheidung, Freundschaft, Elternschaft, Tod und Angst
analysieren. Ich mußte Träume rezensieren, in denen
irre Massenmörder durch dunkle Gassen schlichen und den
Straßenmädchen das Hirn mit Wieselpumpen absaugten; in
denen Kampfkunstexperten ganze Armeen von Polizisten mit den
Füßen niederstreckten; in denen antaresische
Plasmidleoparden aus dem Zirkus entwichen und sich daranmachten, die
nächstgelegenen Grundschulen in Angst und Schrecken zu
versetzen; in denen Raumschiffkapitäne mit nichts weiter als
stickstoffgekühlten Lasergewehren und eckigem Kinn auf
irgendwelchen Provinzplaneten für Recht und Ordnung sorgten.
    Trotzdem muß ich Ihnen sagen: Ich hatte nichts gegen die
blutrünstigen Träume. Die besten von ihnen besaßen
eine emotionale Wirklichkeit, einen Kern von ehrlichem Gefühl,
der mich näher an die ästhetische Wahrheit heranbrachte als
das Zeug, von dem die Literaten immer so viel Aufhebens
machten. Ich glaube, Kunst ist dort, wo man sie sehen will.
    Die Geschichte, warum und wie ich zum Untergang der Kunst beitrug,
die ich liebte, ist wirklich so etwas wie ein Märchen, und
zufällig beginnt sie auch mit einem Märchen. Das
Märchen hieß Die Kröte der Nacht. Ich hatte
diesen Traum am zwölften Inanna, Anno Galactico 791. Dieser
ungewöhnliche Tag begann ganz normal. Die Stundenglocke rief
mich aus dem Schlaf, und mein Bewußtsein taute in der
üblichen Reihenfolge auf: verdammter Lärm… muß
diese Sache über Altäre des Herzens fertigmachen… hoffentlich ist ein Ei da… gibt es
wirklich irgendwelche guten Gründe, nicht den ganzen Tag
im Bett zu bleiben? Ich streckte die Hand aus und schaffte es, die
schrillende Uhr zum Schweigen zu bringen – allerdings erst nach
einer tolpatschigen Komödie, bei der nicht nur die Uhr selbst,
sondern auch meine übergewichtige Katze und ein Wasserglas mit
von der Partie waren. In meiner Wohnung wurde es aber dennoch nicht
still. Wie sich herausstellte, kam die zweite Lärmschicht vom
Vidiphon. Ich meldete mich mit »Hallo«, ohne die Kamera
einzuschalten. Wer immer das sein mochte, ich hatte keine Lust, ihm
oder ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, wenn auch
nur fernbildlich.
    »Hallo, Quinjin.« Es war Francie, die prächtige
Francie Lern, der Leitstern hinter Traumkapseln Entschlüsselt und eine der wenigen Elektrozin-Redakteurinnen in Terransektor,
die genug Rückgrat hatten, meine Sachen zu drucken. Traumkapseln
war der Name, den Leute, die ihre Zephäpfel ernst nahmen, den
Zephäpfeln gaben; Leute, die ihre Zephäpfel nicht ernst
nahmen,
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