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Die Tränen der Massai

Die Tränen der Massai

Titel: Die Tränen der Massai
Autoren: Frank Coates
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Mutter verstand nicht, wieso er nicht einfach mit Liz redete und die Sache bereinigte. Er konnte nicht einmal behaupten, dass es nichts mit Liz zu tun hatte – es hatte mit ihr zu tun, aber nicht so, wie es sich alle vorstellten.
    Jacks Vater war verärgert. Jack nahm an, er ärgerte sich darüber, dass sein Sohn scheinbar keine Spur von der Disziplin an den Tag legte, die er versucht hatte, ihm beinahe von Geburt an beizubringen. Disziplin und Ordnung waren es wert, dass man um sie kämpfte, sagte er oft. Und Jacks Vater kämpfte tatsächlich: gegen die Stadtverwaltung, weil sie den Gehweg nicht reparieren ließ, gegen den Hund des Nachbarn, weil der auf den Grünstreifen schiss. Er kämpfte gegen Unkraut, das es wagte, sich in seinem makellosen Rasen einzunisten. Pläne für die Zukunft. Ein geordnetes Leben. Das waren Qualitäten, die man von einem Sohn erwartete, dessen Vater die Depressionszeit miterlebt und die verdammten Japse im verdammten Neuguinea bekämpft hatte. Und er hatte geknausert und sich alles Mögliche vom Mund abgespart, damit sein Sohn eine anständige Ausbildung erhielt, verdammt noch mal.
    »Wenn du dich selbst kennst und weißt, wo du sein willst«, sagte er immer zu Jack, »ist das schon die halbe Miete. Es ist, als hättest du eine Landkarte deines Lebens. Du verläufst dich nicht und kommst immer dort an, wo du wirklich hinwillst.«
    Jetzt musste Jack wieder an diese Landkarte denken: Wo war sie gewesen, als er sie wirklich brauchte? Warum hatte er in Honolulu nicht erkennen können, dass er aus dem Tritt geriet? Warum hatte O’Hara nicht aufhören können, bevor es in dieser letzten Nacht zur Katastrophe gekommen war?
     
    Jack geriet auf dem Pfad, der von hundert anderen Füßen schlammig geworden war, ins Rutschen, packte eine dicke Ranke, die ihm im Weg hing, und riss sie bei seinem plumpen Sturz auf den grasbewachsenen Wegrand mit. Auf allen vieren hockend, rang er verzweifelt nach Luft, während sich am Rand seines Gesichtsfelds rosa Nebel ausbreitete. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit er Bear zum letzten Mal gesehen hatte, als er ohne sichtbare Anstrengung vor ihm hertrabte, und Stunden seit dem letzten Halt, an dem die Läufer sich sammelten.
    Der Dschungel schloss sich um ihn, und seine Kehle zog sich zu, als gäbe es in ganz Afrika nicht genug Luft, um seine Lunge zu füllen.
    Mit einer Anstrengung, die sich anfühlte, als wäre sie seine letzte, kam er wieder auf die Beine, aber seine Beinmuskeln weigerten sich zu reagierten. Sie waren zu Gummi geworden.
    »Weiter, weiter!«, erklang eine ermutigende Frauenstimme, und jemand joggte vorbei. Jack stöhnte und zwang sich vorwärts. Das Mädchen, schlank, zierlich und mit Beinen wie eine Gazelle, duckte sich unter einem Ast hindurch und war verschwunden.
    Jack stapfte hinter ihr her und taumelte auf eine Lichtung. Eine Lichtung mit Autos – vertrauten Autos. Er konnte Bears Landrover sehen. Er war wieder auf dem Parkplatz des Sigona-Golfclubs, wo der Lauf begonnen hatte, zwanzig Kilometer von Nairobi entfernt am Rand des Steilabbruchs, der ein paar Kilometer weiter beinahe sechshundert Meter tief ins Great Rift Valley führte. Und dort, keine fünfzig Meter entfernt, lehnte sich Bear gegen eine 200-Liter-Tonne, ein Bier in der Hand, und wies nur geringe Spuren von Schweiß auf. Er hob die Flasche zum Gruß.
    Jack hätte gern mit einem tapferen Finish ein bisschen von seiner Selbstachtung wiedererlangt, und sogar eine Spur von Schwung in seinem Schritt wäre gut gewesen, aber das Beste, was er zustande brachte, war ein Torkeln, und selbst das konnte er nicht aufrechterhalten, bis er Bear erreicht hatte, zu dem inzwischen noch ein anderer Läufer gestoßen war.
    Der große, kräftige Mann holte ein Tusker aus dem Eis. »Hier, Kumpel«, sagte er und hielt Jack die triefende Flasche vor die Nase. Jack sackte nach vorn und stützte die Hände auf die Knie. Lange ließ er den Kopf baumeln. Als er sich wieder aufrichtete und die verspannten Schultern kreisen ließ, bog er den Kopf zurück und atmete tief ein, was die Muskeln an seinem Rücken noch fester an das schweißdurchtränkte T-Shirt klebte.
    »Puh!«, keuchte er.
    Bear sagte: »Lars – Jack. Jack – Lars.« Dann hielt er Jack wieder das Bier hin. »Hier.«
    Jack hob die Hand, aber dann taumelte er zum Rand des Parkplatzes, wo er einige Zeit würgte, ohne sich übergeben zu können.
    Lars und Bear tranken schweigend weiter, bis Jacks Schultern nicht mehr
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