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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44
Autoren: Tom Rob Smith
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Sowjetunion, Ukraine
Das Dorf Tscherwoj
Januar 1933
    Da Maria beschlossen hatte zu sterben, würde ihre Katze sich allein durchschlagen müssen. Maria hatte sich schon viel länger um sie gekümmert, als vernünftig war. Längst waren die Mäuse im Dorf von den Dorfbewohnern gefangen und vertilgt worden. Einige Zeit später verschwanden auch die Katzen und Hunde. Alle, außer einer Katze, dieser hier, die Maria versteckt gehalten hatte. Warum hatte sie sie behalten? Weil sie etwas war, wofür man leben konnte, was man beschützen und lieben konnte – etwas, für das es sich lohnte zu überleben. Sie hatte sich geschworen, die Katze bis zu dem Tag zu füttern, an dem sie selbst nichts mehr zu essen hatte. Dieser Tag war heute. Maria hatte schon ihre Lederstiefel in dünne Streifen geschnitten und sie mit Brennnesseln und Rübsamen aufgekocht.
    Sie hatte nach Regenwürmern gegraben und Rinde gegessen. Heute Morgen hatte sie im fiebrigen Delirium ein Bein ihres Küchenstuhls angenagt und gekaut und gekaut, bis ihr Splitter das Zahnfleisch blutig gestochen hatten. Die Katze hatte das gesehen und sich unter dem Bett versteckt; sie weigerte sich, wieder darunter hervorzukommen, auch als Maria sich hingekniet, sie beim Namen gerufen und gelockt hatte. In diesem Moment hatte Maria beschlossen zu sterben. Es gab nichts zu essen und nicht mal mehr eine Katze konnte man liebhaben.
    Sie wartete bis zum Einbruch der Dämmerung, bis sie sie freiließ. Sie rechnete sich aus, dass die Katze im Schutz der Dunkelheit bessere Chancen hätte, ungesehen den Wald zu erreichen. Wenn irgendwer im Dorf sie sah, würde man sie jagen. Obwohl Maria selbst dem Tod so nah war, brachte der Gedanke, dass man ihre Katze töten könnte, sie aus der Fassung. Sie beruhigte sich damit, dass die Katze das Überraschungselement auf ihrer Seite hätte. In einer Gemeinschaft, wo erwachsene Männer Erdklumpen kauten in der Hoffnung auf Ameisen oder Insektenlarven, wo die Kinder Pferdedung zerpflückten in der Hoffnung auf unverdaute Getreidekörner und wo Frauen sich um den Besitz von Knochen prügelten, würde mit Sicherheit niemand glauben, dass noch eine Katze am Leben sein konnte.
    ***
    Pavel traute seinen Augen nicht. Es war tapsig, dürr, hatte grüne Augen und ein schwarz geflecktes Fell. Eindeutig eine Katze. Er war gerade dabei, Feuerholz zu sammeln, als er sah, wie sie aus Maria Antonownas Haus und über die schneebedeckte Straße in Richtung Wald schoss. Pavel hielt den Atem an und schaute rasch um sich. Niemand sonst hatte sie entdeckt. Keiner war zu sehen, kein Licht brannte in den Fenstern.
    Aus kaum der Hälfte der Schornsteine stiegen dünne Rauchschwaden auf, die einzigen Lebenszeichen. Es war, als hätte der heftige Schneefall das Dorf erstickt, alle Anzeichen von Leben ausgelöscht. Der meiste Schnee lag unberührt da, es gab kaum Fußspuren und kein einziger Pfad war freigeschaufelt worden. Die Tage waren so still wie die Nächte. Niemand stand zur Arbeit auf. Keiner seiner Freunde spielte, alle blieben zu Hause. Dort lag die Familie eng aneinandergeschmiegt im Bett, die Augen eingesunken und die Haut in schlaffen Falten. Erwachsene sahen mittlerweile wie Kinder aus und Kinder wie Erwachsene. Die meisten hatten es aufgegeben, überhaupt noch nach Essbarem zu suchen. Unter solchen Umständen war das Auftauchen einer Katze schlichtweg ein Wunder – die Wiederentdeckung einer längst ausgestorben geglaubten Kreatur.
    Pavel schloss die Augen und versuchte sich an das letzte Mal zu erinnern, dass er Fleisch gegessen hatte.
    Als er die Augen wieder öffnete, sabberte er, wie ein Rinnsal rann ihm die Spucke übers Kinn. Er wischte sie mit dem Handrücken ab. Aufgeregt ließ er den Stapel Äste fallen und rannte nach Hause. Diese unglaubliche Neuigkeit musste er unbedingt seiner Mutter Oksana erzählen.
    ***
    In eine Wolldecke gehüllt saß Oksana da und starrte zu Boden. Sie verharrte vollkommen still und sparte Kraft, während sie zu überlegen versuchte, wie sie ihre Familie durch den Winter bringen sollte, Gedanken, die sie zu jeder wachen Stunde und in jedem angstvollen Traum verfolgten. Sie war eine der wenigen, die noch nicht aufgegeben hatten. Sie würde nie aufgeben.
    Nicht, solange es ihre Söhne gab. Aber Entschlossenheit allein reichte nicht, sie musste auch vorsichtig sein. Überflüssige Anstrengung bedeutete Erschöpfung, und Erschöpfung bedeutete unweigerlich den Tod. Vor ein paar Monaten hatte sich Nikolai Iwanowitsch, ein
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